Rot
beobachtete, wie Anatoli Smirnow am Rand des Parkes stehenblieb und sich mit dem Institutsdirektor unterhielt, aber ihr fiel nichts ein, was sie unternehmen könnte. Wie sollte sie erreichen, dass der Russe die vonder SUPO präparierte Tasche losließ? Verdammt, die Sache ging total schief.
Plötzlich tauchte ihr Kollege aus dem Restaurant auf und befahl ihr mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. In aller Ruhe und so, als wäre es Zufall, schlenderte der rothaarige Mann zu Smirnow hin, steckte sich eine Zigarette in den Mund und suchte in seinen Taschen. Schließlich bat er den Russen um Feuer.
Eeva Vanhala war einen Meter von Anatoli Smirnow entfernt, als der den Aktenkoffer auf den rötlichen Fußwegsteinen absetzte und die Streichholzschachtel aus der Hosentasche holte. Sie trat rasch hinter ihn, stellte ihre Tasche neben seine und schnappte sich das Double. Als sie den Platz vor dem Restaurant verließ, fühlte sie sich fast schwerelos: Die ganze Anspannung und die Enttäuschung waren wie weggeblasen, ein Wohlgefühl überkam sie. Das nannte man wohl einen Endorphinrausch. Sie hatte Smirnows Material für sich kopiert.
ERSTER TEIL
Smirnows Material
4. – 6. Oktober, Gegenwart
1
Dienstag, 4. Oktober
Im Jahr 1989 ist der 13. Oktober ein Freitag. Vater, Mutter, meine zehnjährige kleine Schwester Emma und ich, Leo Kara, sitzen im Esszimmer, um mit dem Dinner das Wochenende zu eröffnen. Die Stimmung ist angespannt. Vater gießt sich einen Drink ein, Wodka mit Selters, Mutter bringt das Essen auf den Tisch und Emma plappert wie immer alles Mögliche. Auf Anweisung meines Vaters schalte ich den Fernseher mitten in einer Folge von »Coronation Street« aus. Es gibt Schmorbraten vom Lamm mit Pfefferminzgelee, Bratkartoffeln, braune Soße, gedünsteten Kohl, Brokkoli und als Beilage Yorkshire-Pudding. Mutter und Vater trinken dazu Rotwein und Wasser, Emma und ich Dr Pepper. Als jeder sein Essen auf dem Teller hat, fängt Vater an, über seine Arbeit zu reden. Es ist die letzte gemeinsame Mahlzeit und wir hören einen Vortrag über die astronomischen Entdeckungen, die das Modul Kvant-1 der sowjetischen Raumstation Mir angeblich gemacht hat. Keinen interessiert das.
Plötzlich klirrt es laut, das Küchenfenster wird eingeschlagen, wir ducken uns alle blitzschnell unter den Tisch. Dann zersplittert eine zweite Scheibe. Emma kreischt und die Eindringlinge stürmen herein, ich kann noch vier schwarz gekleidete Soldaten sehen, zwei in der Küche und zwei im Wohnzimmer, bevor Vater mit dem Gewehrkolben geschlagen und mir ein Beutel über den Kopf gezogen wird. Man schleppt uns in einen Kleintransporter, der vor dem Haus wartet. Als der Wagen durch die Londoner Straßen holpert, werde ich hin und her geworfen und verletze mich an Armen und Beinen, Emma weint hysterisch und Vater verlangt von den Angreifern eine Erklärung. Die drehen statt einer Antwort den Regler der Stereoanlageauf volle Lautstärke, If you don’t know me by now von Simply Red ätzt sich in mein Gedächtnis ein. Ich übergebe mich und verliere das Bewusstsein.
In einem Keller wache ich wieder auf, meine Oberlippe ist mit geronnenem Blut bedeckt. Emma liegt auf dem kalten Betonboden und schläft unruhig. Ich gerate in Panik, brülle und hämmere mit den Fäusten an die Stahltür, bis meine Kräfte erlahmen. Irgendwo weiter oben höre ich Vaters und Mutters gedämpfte Schreie. Dann dreht sich der Schlüssel im Schloss und ich sehe Manas das erste Mal. Der kirgisische Killer lächelt hohl, seine Hände sind blutverschmiert. Und in diesem verdammten Moment wird Emma wach und erblickt Manas, der gerade wieder geht und die Tür abschließt. Vor Angst und Entsetzen verliert meine Schwester völlig die Fassung. Verzweifelt sucht sie einen Fluchtweg und findet schließlich unter Kisten einen uralten Abfluss in die Kanalisation. Sie schafft es, den Metalldeckel beiseitezuschieben und schlägt dann mit einem großen Stein auf den Rand der Öffnung im Boden, um sie zu vergrößern, ein paar Mörtelbrocken brechen heraus. Emma hämmert, bis sie blutige Hände hat, und es gelingt ihr schließlich, in den Schacht hineinzusteigen. Ich probiere es auch, aber für mich ist das Loch zu eng.
»Ich will versuchen zu fliehen«, sagt Emma, und es klingt wie eine Frage, meine Schwester schaut mich so an, als würde sie auf meine Erlaubnis warten. Ich überlege lange. Emma ist erst zehn und kennt wahrscheinlich die Gegend nicht, in die man uns gebracht hat. Was geschieht,
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