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Rot

Rot

Titel: Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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bleibt stehen. Ich öffne den Mund, als Manas ihr die Waffe an die Stirn drückt. Er dreht den Kopf und schaut mich an, ich bekomme kein Wort heraus …
    Ein Schuss kracht und Blut spritzt aus Mutters Hinterkopf an die Betonwand. Das ist meine Schuld. Eine zweite Kugel trifft Mutter, das Echo schallt durch die Halle, ich renne los, sehe aber noch, wie Manas seine Waffe auf Emma richtet. Ich stürze ins Treppenhaus, bleibe jedoch stehen, weil ich von unten Stimmen höre. Als ein dritter Schuss knallt, wird mir klar, dass auch Emma meinetwegen umgebracht wurde. Das Herz zerspringt mir beinahe, ich mache kehrt und schaue mich um: die riesige, leere Halle, die Treppe zum Dachboden, der Raum, aus dem ich eben geflohen bin, eine zweite Tür …
    Ich haste zu ihr hin, fasse nach der Klinke, drücke mit aller Kraft und spüre, dass sie sich bewegt, hält jemand auf der anderen Seite die Tür zu? Ich springe hoch und versuche mein Gewicht auf die Klinke zu übertragen. Sie senkt sich ein paar Zentimeter, geht aber sofort wieder nach oben. Dann höre ich, wie hinter der Tür ein Mann ruft, zwei Wörter auf Russisch:
    » Derschi maltschika! Halte den Jungen auf !«
    Als ich den Kopf drehe, sehe ich hinter mir Manas näher kommen, er hebt seine Waffe. Ich greife mit beiden Händen nach der Klinke, springe hoch und lasse mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Türgriff fallen, im selben Moment kracht ein Schuss, vielleicht auch ein zweiter.
    Zähflüssiges Blut läuft mir in die Augen, mein Bewusstsein schwindet, ich will zu Manas hin kriechen. Dann wird um mich herum alles dunkel.
    Leo Kara wachte im spartanisch eingerichteten Schlafraum seiner Zweizimmerwohnung in der Wiener Engerthstraße auf. Er lag schweißüberströmt im Bett und starrte auf die blutroten Ziffern, die der Wecker an die Decke projizierte: 03:02. Die nächtliche Wolfsstunde. Er hatte das Gefühl zu ersticken, sein ganzer Körper bebte und brannte wie Feuer. Er war so tief erschüttert, dass er nicht einmal schreien konnte – das zwanzig Jahre währende quälende Warten war endlich vorbei. Jetzt erinnerte er sich an alles, was in London damals geschehen war. Die Bilder kreisten in seinem Kopf wie Schmeißfliegen, er hatte alles in einem einzigen Alptraum gesehen, der über ihn hinweggerollt war.
    Er schloss die Augen. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, er zitterte und sein Atem rasselte. Minuten vergingen, es erschien ihm unmöglich, zu akzeptieren, was 1989 geschehen war. Er trug die Schuld an der Ermordung seiner Mutter und vielleicht auch seiner Schwester, seiner Familie. Die bisher fehlenden Erinnerungen waren wieder aufgetaucht, und das hatte ihm den letzten Rest an innerem Frieden geraubt. Es kam ihm so vor, als würde er von einem schwarzen Loch aufgesaugt, als wäre er im freien Fall auf dem Weg zum endgültigen Zusammenbruch. Er würde nie akzeptieren können, was er getan hatte, niemand könnte das.
    Kara stand auf, stieß im Flur den Stapel Post und Werbung mit einem Fußtritt um und betrat das Bad. Er blieb vor dem Spiegelschrank stehen und fuhr zusammen, als er sich sah. Die Augen lagen tief in den Höhlen, sein Gesicht war kreidebleich, das Grübchen am Kinn hatte sich noch stärker eingegraben, und nun entdeckte er nicht nur in seiner blonden Bürstenfrisur einzelne graue Haare, sondern auch zwischen den dunklen Bartstoppeln.
    Rasch drehte er das Wasser auf und duschte so kalt, wie er es aushielt. In seinem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: Er hatte die Antwort auf die Frage von Manas gewusst, vielleicht wäre er imstande gewesen, den Tod seiner Mutter zu verhindern. Wie zum Teufel sollte man damit leben? Wenn extrem traumatische Erinnerungen wieder auftauchten, dann könnte das nach Ansicht der Psychiater einen Menschen zugrunde richten. Und jetzt erinnerte er sich an alles.
    Kara zog eine ausgebleichte Trainingshose an, ging in die Küche und holte aus dem hintersten Winkel des Speiseschranks eine alte Teebüchse hervor. Er legte alles, was sie enthielt, auf den kleinen Tisch. Dann setzte er sich auf den Hocker und wickelte zum Abbinden ein dickes Gummiband oberhalb des Ellbogens um den Arm. Er steckte die Kanüle der Injektionsspritze in die Ampulle, zog 0,2 Milliliter Morphium auf, spritzte die Luft und ein paar Tropfen hinaus und leckte die Nadel ab. Nachdem er das Gummiband mit der freien Hand straff gezogen und ein Ende zwischen die Zähne geklemmt hatte, klopfte er mit dem Finger auf die anschwellende Vene in der Ellbogenbeuge, bis sie

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