Roter Herbst - Kriminalroman
Das Gespräch fand womöglich am 20. Oktober, an einem gewittrigen Herbstmorgen des Jahres 1977, statt. Die letzten Tage waren aufreibend gewesen und nervöse Spannung lag in der Luft. Sie hatte nicht nur die beiden Männer erfasst, die sich im Büro des Bundeskanzlers gegenübersaßen, oder die Männer und Frauen des Großen Krisenstabs, die in verschiedenen weiteren Büros des Kanzleramts tagten, sondern die gesamte Republik. Es waren Stunden und Tage, in denen die Menschen den Atem anzuhalten schienen.
Der Meinungsaustausch der beiden Männer war ins Stocken geraten. Eine Weile folgten sie nur ihren eigenen Gedanken. Es war der Bundeskanzler, der die lastende Stille nach einigen Minuten wieder durchbrach.
»Wir haben diese Leute groß gemacht. Diese Bürschchen und Muttersöhnchen, die jetzt plötzlich mit uns Krieg spielen wollen …«
Hans-Jürgen Wischnewski, sein Gegenüber, zog an seiner Pfeife und stieß eine Rauchwolke aus. Auch der Kanzler rauchte. Sie saßen seit Stunden zusammen in Schmidts Büro. Die Luft war zum Schneiden, aber das bemerkten die Männer nicht, war ihnen wohl auch egal.
»Das waren anfangs nichts anderes als langhaarige Wirrköpfe, brave Bürgersöhne und Bürgertöchter, die Molotow für einen russischen Wodka gehalten haben … Wer zum Teufel hat diesen Wichtigtuern denn Waffen und Sprengstoff in die Hand gedrückt? Wer?«
Er zögerte einen Moment, ehe er die Frage selbst beantwortete. »Unsere eigenen Leute waren das.«
Schmidt wirkte erregt. Wischnewski, der ihm seltsam lethargisch gegenübersaß, versuchte, den Kanzler zu beruhigen, was den noch mehr auf die Palme brachte.
»Es gibt genug Hinweise, dass die Brüder vom Verfassungsschutz ihre Finger in der Sache hatten …«
»Unsere internen Untersuchungen …«
Schmidt konnte seine Wut nicht recht beherrschen. »Interne Untersuchungen … Schon vor zehn Jahren haben die die Regie übernommen. Kurt in Berlin und dieses verdammte Gesindel.«
Die Worte wirkten wie hingerotzt, doch Wischnewskis Gesicht ließ keine Reaktion erkennen. Im Grunde teilte er Schmidts Meinung.
Immer wieder hatte es Gerüchte gegeben, dass der Verfassungsschutz die bewaffnete Linke und vor allem die RAF erst möglich gemacht hatte. Viele fragten sich, ob die Radikalisierung und Kriminalisierung von Teilen der 68er-Bewegung zu Beginn der 70er durch politische Kräfte ermöglicht worden war, die einen Vorwand schaffen wollten, um sich der Studentenbewegung zu entledigen. Bei diesen Gedankenspielen war immer wieder auch der Name des ehemaligen Berliner Innensenators Kurt Neubauer, eines Parteifreundes des Bundeskanzlers, gefallen.
Nun, Jahre später, war es zur Katastrophe gekommen …
Es war die Zeit des Deutschen Herbstes, wie die bestürzenden Ereignisse im September und Oktober 1977 später einmal bezeichnet werden sollten. Es waren Tage, die durch die Anschläge der linken Terrororganisation Rote Armee Fraktion geprägt waren, Tage, die den Höhepunkt des deutschen Terrorismus darstellten. In diese kurze Phase der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte fielen die Ermordung Hanns-Martin Schleyers, des Arbeitgeberpräsidenten, die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs Landshut, aber auch die Selbstmorde der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden führenden RAF-Mitglieder Baader, Enslin und Raspe.
Wenn Schmidt an diesem grauen Morgen recht hatte, dann war zu diesem Zeitpunkt eine blutige Saat aufgegangen, die zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führen sollte, die mit Waffengewalt und menschenverachtender Brutalität ausgetragen wurden und erst mit der Bekanntgabe der Selbstauflösung der RAF am 20. April 1998 enden würden.
Hinter den beiden Männern, die sich im Kanzleramt zu einer sehr persönlichen Aussprache getroffen hatten, lagen eine Reihe von Tagen und Nächten, in denen sie sich zusammen mit einem Stab an erfahrenen Politikern aus den verschiedenen Fraktionen des Deutschen Bundestages gegen eine der schwersten Krisen in der Geschichte der jungen Bundesrepublik zur Wehr gesetzt hatten.
Schmidt wirkte erschöpft, und auch Wischnewski war gezeichnet von den Anstrengungen, die er sich zugemutet hatte.
»War’s das nun?«, fragte der Kanzler, ohne Wischnewski direkt anzusprechen. »Ist der Wahnsinn zu Ende? Jetzt, wo sie tot sind.«
Der Staatssekretär erhob sich und ging zum Fenster. Versonnen blickte er hinaus.
»Wir müssen vorsichtig sein«, meinte er. »Es darf zu keiner Legendenbildung kommen. Was wir nicht
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