Rotglut
den Toten erkennt. Dann wissen wir vielleicht, ob Renard Stegmann ist oder nicht.« Harry reckte seine Arme nach oben. »Und überhaupt, was sollte die Anspielung mit der Zeugin?«
Peter grinste schelmisch. »He, komm, das konnte ja ein Blinder mit ’nem Krückstock erkennen, dass du auf sie abgefahren bist. Wird Zeit, dass du mal wieder eine Freundin findest. Du bist schon viel zu lange allein.«
Harry knüllte ein Blatt Papier zusammen und warf es nach seinem Kollegen. »Musst du grade sagen, Mister Supersolo.«
Dahnken fing den Papierball ab und warf ihn zielsicher in den Papierkorb. »Aber ich habe mehr Gelegenheiten als du, schließlich sehe ich besser aus.«
Harry winkte ab. »Ja, ja, das hat die Stiefmutter von Schneewittchen auch geglaubt. Jetzt aber los, wir schicken ein Foto an die Presse.«
03. Juli 2010, Bremen
Saskia Uhlenbruck schlug den Weser-Kurier auf, schlürfte nebenher ihre erste Tasse Kaffee und knabberte an einem Marmeladenbrötchen. Gelangweilt blätterte sie weiter, Hauptschlagzeilen waren natürlich die Fußballweltmeisterschaft und der heiße Sommer. Zum Viertelfinale gegen Argentinien war selbst Bundeskanzlerin Merkel nach Südafrika gereist, als ob es in Deutschland keine Probleme zu lösen gäbe. Saskia schüttelte den Kopf. Diese Fußballnarretei hatte sie noch nie verstanden. Sie schlug den Bremer Teil der Zeitung auf und stockte. Das Foto eines Mannes war abgebildet, daneben ein kleiner Artikel und die Suchanfrage der Polizei: ›Wer kennt diesen Mann?‹ Sie sah noch einmal genau hin. Kein Zweifel! Das war ihr Vater, und laut Artikel war er vor knapp einer Woche im Bürgerpark ermordet worden. Saskia Uhlenbruck legte das angebissene Brötchen geistesabwesend auf den Teller, stand auf und ging zum Telefon. Dann wählte sie die angegebene Nummer für sachdienliche Hinweise an die Polizei. Der Kaffee wurde kalt.
05. Juli 2010, Bremen
Es war das reinste Bilderbuchwetter, als KHK Heiner Hölzle und KOK Harry Schipper nach Oberneuland fuhren.
Peter Dahnken und Harry hatten die Psychologin Saskia Uhlenbruck bereits einen Tag zuvor aufgesucht, nachdem sie sich aufgrund der Veröffentlichung des Fotos in der Zeitung bei der Kriminalpolizei gemeldet hatte. Die Beamten konnten kaum glauben, was die Frau ihnen erzählt hatte. Zu Beginn des Telefonats hatte sie noch ganz ruhig geklungen, dann aber hatte sie offenbar das soeben Gelesene erst richtig verarbeitet und am Telefon unter Tränen in den Hörer gestammelt, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild ganz sicher um ihren Vater handelte. Raimund Stegmann.
Harry und Peter waren gleich zu ihr gefahren, um mehr über Stegmann in Erfahrung zu bringen. Die ganze Geschichte mutete seltsam an, denn laut Aussage der Tochter galt ihr Vater seit Jahrzehnten als tot. Stockend erzählte sie den Beamten, was sie tatsächlich wusste, dass sie ihren Vater vor Kurzem getroffen, genauer gesagt, dass er sie in ihrer Praxis aufgesucht hatte, und sie völlig schockiert gewesen war. Mit dem Namen Yves Renard konnte sie nichts anfangen. Letztendlich hatte sie ihnen die Adresse ihrer Mutter gegeben, die der Polizei vielleicht mehr erzählen könne als Saskia selbst, denn schließlich sei sie erst drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
Nun wollten sich Hölzle und Schipper mit Hannelore Uhlenbruck, Stegmanns Exfrau, treffen. Wie so oft, mussten sie an der Bahnüberquerung der Rockwinkler Landstraße warten. Vor dem Wagen Hölzles staute sich schon eine lange Schlange an Fahrzeugen, und er hatte den Eindruck, wie wahrscheinlich jeder, der diese Straße entlangfuhr, dass die Züge hier im Minutentakt vorbeiratterten und so die Schranken dauerhaft den Bahnübergang blockierten.
Endlich konnten sie weiterfahren und bogen dann nach einigen Hundert Metern nach links in den Modersohnweg ein. Das Haus Nummer 27 war ein für Oberneulandverhältnisse kleines Haus. Das Walmdach hätte eine Renovierung vertragen können, denn das Moos hatte hier bereits überhandgenommen. Dagegen waren die Fensterläden offensichtlich frisch gestrichen und gaben dem Haus mit ihrer azurblauen Farbe ein mediterranes Gesicht. Der Vorgarten war ein reiner Traum aus Rosen, in zwei Rabatten bogen sich die Sträucher unter ihrer pinkfarbenen Last.
Harry parkte und die beiden Kriminalbeamten stiegen aus. Hölzle klingelte, eine Art Gong ertönte im Inneren des Hauses und kurz darauf öffnete Hannelore Uhlenbruck die Haustür. ›Sieht
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