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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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trostlos.
    »Sehen Sie sich Sportsendungen an?«
    Er schüttelte den Kopf so energisch wie ein Kind auf die Frage, ob es mit Feuer spiele.
    »Das verstehe ich«, sagte ich. »Als meine Kinder noch ganz klein waren und ich nicht mit ihnen auf dem Rasen herumlaufen konnte, und als sie dann älter waren und lernten, Fahrrad zu fahren, und ich sie nicht begleiten konnte, hat mich das sehr deprimiert. Man versucht, diese Gefühle zu unterdrücken, aber es ist nicht leicht.«
    »Bevor ich die Zeitung lese, lege ich den Sportteil beiseite. Ich will ihn nicht mal sehen.«
    »Haben Sie Ihren Freund Dave wiedergesehen, als er aus dem Krieg zurückkam?«
    »Er hat einen Job an der Schule in Englewood bekommen und ist mit Frau und Kindern dorthin gezogen. Nein, ich habe ihn nicht wiedergesehen.« Er verfiel in Schweigen, und es war deutlich, dass er sich, allen stoischen Behauptungen des Gegenteils zum Trotz, nie auch nur ansatzweise daran gewöhnt hatte, so vieles verloren zu haben, dass er selbst siebenundzwanzig Jahre später noch darüber nachgrübelte, was geschehen und nicht geschehen war, und sein Bestes tat, nicht an eine Vielzahl von Dingen zu denken - unter anderem daran, dass er jetzt der Leiter der Sportabteilung der Weequahic Highschool gewesen wäre.
    »Ich wollte Kindern helfen und sie stark machen«, sagte er schließlich, »aber statt dessen habe ich ihnen irreparablen Schaden zugefügt.« Das war der Gedanke, der sein jahrzehntelanges stummes Leiden geformt hatte, das Leiden eines Mannes, der keinerlei Leid verdient hatte. In diesem Augenblick sah er aus, als lebte er bereits seit siebentausend schamerfüllten Jahren auf dieser Erde. Ich nahm seine gesunde Hand - eine Hand, deren Muskeln funktionierten, die aber nicht mehr stark und kräftig war, eine Hand, die die Festigkeit einer weichen Frucht hatte - und sagte: »Die Polio hat den Schaden angerichtet. Sie waren nicht der Täter. Sie hatten mit der Ausbreitung der Krankheit so wenig zu tun wie Horace. Sie waren ebenso sehr ein Opfer wie alle anderen.«
    »Nein, Arnie. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem Mr. Blomback den Jungen von den Indianern erzählte. Er sagte, die Indianer hätten geglaubt, dass bestimmte Krankheiten von einem bösen Geist stammten, der unsichtbare Pfeile verschoss -«
    »Nicht. Sprechen Sie nicht weiter, bitte. Das ist eine Lagerfeuergeschichte für Kinder. Wahrscheinlich kommt darin auch ein Medizinmann vor, der den bösen Geist vertreibt. Sie waren nicht dieser böse Geist. Sie waren auch nicht der Pfeil, verdammt. Sie waren nicht der Überbringer von Verkrüppelung und Tod. Und wenn Sie nicht aufhören können, sich als Täter zu sehen, dann wiederhole ich: Sie waren ein ganz und gar unschuldiger Täter.«
    Und dann - als könnte ich allein durch den starken Wunsch nach einem Sinneswandel einen solchen in ihm bewirken; als könnte ich ihn nach diesen mittäglichen Gesprächen endlich dazu bringen, sich als etwas anderes als die Summe seiner Mängel zu betrachten und sich von der Scham zu befreien; als stünde es in meiner Macht, den Sportlehrer von früher wiederzubeleben, der ganz allein die zehn Italiener vertrieben hatte, die uns mit der Drohung, die Polio unter den Juden zu verbreiten, hatten Angst einjagen wollen - sagte ich heftig: »Stellen Sie sich nicht gegen sich selbst! Die Welt ist grausam genug. Machen Sie sie nicht noch schlimmer, indem Sie sich zum Sündenbock erklären.«
    Aber niemand ist so unrettbar verloren wie ein gescheiterter guter Junge. Er lebte schon viel zu lange mit seiner eigenen Sicht der Dinge - und ohne all das, was er sich immer so leidenschaftlich gewünscht hatte -, als dass es mir hätte gelingen können, seine Interpretation der schrecklichen Ereignisse in seinem Leben oder seine Haltung dazu zu verändern. Bucky war weder hochintelligent - das hatte er als Sportlehrer auch nicht sein müssen - noch im Entferntesten unbekümmert. Er war ein weitgehend humorloser Mann, der sich zwar ausdrücken konnte, aber nicht geistreich war, der nie etwas Satirisches oder Ironisches sagte und kaum je einen Witz machte oder im Scherz sprach. Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt, indem er seiner Geschichte eine durch und durch düstere, strafende Bedeutung verliehen hatte, die im Lauf der Zeit immer größer geworden war und sein Unglück verschlimmert hatte. Das Wüten der Epidemie auf dem Sportplatz

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