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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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nicht mehr zur Schule gehen - ich wollte nicht den ganzen Tag daran erinnert werden, wie Jungen in meinem Alter aussahen und was sie konnten. Was ich wollte, war eine Winzigkeit: Ich wollte sein wie alle anderen. Sie kennen das. Ich werde nie mehr das sein, was ich früher war. Ich werde für den Rest meines Lebens das sein, was ich jetzt bin. Ich werde mich nie wieder freuen können.«
    Bucky nickte. Er, der einst, für einen kurzen Augenblick auf dem Sprungturm in Camp Indian Hill, der glücklichste Mensch der Welt gewesen war, der in der entsetzlichen Hitze jenes vergifteten Sommers gehört hatte, wie Marcia Steinberg ihm am Telefon ein Schlaflied gesungen hatte, verstand nur zu gut, was ich meinte.
    Ich erzählte ihm von meinem Zimmergenossen im ersten Jahr auf dem College. »Als ich in Rutgers war«, sagte ich, »bekam ich im Wohnheim den einzigen anderen jüdischen Studenten mit Kinderlähmung zugeteilt. So machte man das damals, wie auf der Arche Noah. Es ging ihm körperlich viel schlechter als mir. Er war grotesk deformiert. Pomerantz hieß er. Ein brillanter Stipendiat, Jahrgangsbester in der Highschool, hervorragende Noten in allen Seminaren, und ich konnte ihn nicht ausstehen. Er machte mich wahnsinnig. Er konnte einfach nicht aufhören. Konnte seine unstillbare Sehnsucht nach dem Pomerantz, der er vor der Polio gewesen war, nicht vergessen. Konnte nicht für einen einzigen Tag aufhören, die Ungerechtigkeit zu beklagen, die ihm widerfahren war. Redete immer und immer wieder davon, wie ein Besessener. >Zuerst lernt man das Leben eines Krüppels kennen<, sagte er. >Das ist die erste Phase. Wenn man darüber hinweg ist, tut man das wenige, was man tun kann, um nicht seelisch zu sterben.
    Das ist die zweite Phase. Danach müht man sich, nicht bloß einer zu sein, der die Qual erträgt, obwohl es genau das ist, was man wird. Und dann, fünfhundert Phasen später, wenn man in den Siebzigern ist, kann man, wenn man Glück hat, endlich mit einigem Wahrheitsanspruch sagen: ,Tja, ich hab's geschafft - ich hab mir nicht alles Leben aus den Knochen saugen lassen.' Und dann stirbt man.< Pomerantz hatte auf dem College hervorragende Noten und studierte dann Medizin. Und dann ist er gestorben - im ersten Jahr des Medizinstudiums hat er sich umgebracht.«
    »Ich kann nicht behaupten«, sagte Bucky, »dass ich nicht auch mal mit dem Gedanken gespielt hätte.«
    »Ich habe ebenfalls an Selbstmord gedacht«, sagte ich. »Aber mein Zustand war ja auch nicht so schlecht wie der von Pomerantz. Und dann hatte ich Glück, unerhörtes Glück: Im letzten Jahr auf dem College habe ich meine Frau kennengelernt. Und dann hörte die Kinderlähmung langsam auf, das einzige Drama zu sein, und ich gewöhnte mir ab, mit meinem Schicksal zu hadern. Ich lernte, dass die Tragödie, die ich 1944 in Weequahic durchlebt hatte, nicht unbedingt auch eine lebenslängliche persönliche Tragödie sein musste. Meine Frau ist mir seit achtzehn Jahren eine zärtliche, heitere Gefährtin. Sie hat viel bewirkt. Und wenn man Kinder hat, vergisst man, was das Schicksal einem zugefügt hat.«
    »Ich bin sicher, Sie haben recht. Sie machen den Eindruck eines zufriedenen Menschen.«
    »Wo leben Sie jetzt?«, fragte ich.
    »Ich bin nach North Newark gezogen, in die Nähe des Branch Brook Parks. Die Möbel meiner Großmutter waren so alt und wacklig, dass ich sie nicht behalten habe. Ich bin eines Samstags losgezogen und habe mir ein neues Bett, ein Sofa, Sessel, Lampen und so weiter gekauft. Ich habe eine gemütliche Wohnung.«
    »Haben Sie Gesellschaft?«
    »Ich bin nicht gern in Gesellschaft, Arnie. Ich gehe ins Kino. Ich sehe mir alle Filme an. Jeden Sonntag gehe ich nach Ironbound in ein gutes portugiesisches Restaurant. Bei schönem Wetter setze ich mich gern in den Park. Ich sehe fern. Ich sehe mir die Nachrichten an.«
    Ich stellte mir vor, wie er all diese Dinge tat, allein, ein Liebeskranker, der versuchte, sich sonntags nicht nach Marcia Steinberg zu sehnen und sich werktags nicht einzubilden, er habe sie, zweiundzwanzig Jahre alt, auf einer Straße in der Innenstadt gesehen. Angesichts des jungen Mannes, der er gewesen war, hätte man ihm die Kraft zugetraut, auch mit einem schwereren Los fertigzuwerden. Doch dann stellte ich mir vor, was ich ohne meine Familie wäre, und fragte mich, ob mir ein solches Leben besser oder auch nur ebenso gut gelungen wäre. Kino und Arbeit und sonntags ein Essen im Restaurant - das klang in meinen Ohren entsetzlich

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