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Rotkäppchen und der böse Wolf

Rotkäppchen und der böse Wolf

Titel: Rotkäppchen und der böse Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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glauben Sie mir, nur wir kennen den rechten Weg …«
    Seine Stimme klang beschwörend. Er neigte sich zu ihr, jeder Zoll die Verkörperung des ehrlichen »englischen Seemanns«. Tuppence blickte ihn an und zermarterte sich den Kopf nach der richtigen Antwort. Aber nur etwas fiel ihr ein, und das war frech, kindisch, unverschämt.
    »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp!«, trällerte Tuppence vor sich hin.
    Die Wirkung war so überwältigend, dass sie zurückfuhr.
    Haydock schnellte in die Höhe, sein Gesicht wurde dunkelrot vor Wut; mit einem Schlag war jede Ähnlichkeit mit dem Prototyp des herzlich-biederen englischen Seemanns weggewischt. Jetzt sah sie, was Tommy damals gesehen hatte – den tobsüchtigen, brutalen Preußen.
    Er fluchte in fließendem Deutsch. Dann besann er sich, wechselte ins Englische hinüber.
    »Sie verfluchtes kleines Luder!«, schrie er sie an. »Wissen Sie denn nicht, dass Sie sich mit dieser Antwort alles verdorben haben? Jetzt ist es aus mit Ihnen – mit Ihnen und Ihrem Mann! Anna!«, schrie er mit erhobener Stimme.
    Die Frau, die Tuppence geöffnet hatte, kam ins Zimmer. Haydock drückte ihr die Pistole in die Hand.
    »Bewachen Sie sie. Wenn nötig, schießen Sie.«
    Er stürmte aus dem Zimmer.
    Tuppence blickte Anna, die mit undurchdringlichem Gesicht vor ihr stand, freundlich an.
    »Würden Sie wirklich auf mich schießen«, fragte sie.
    »Geben Sie sich keine Mühe. Mich kriegen Sie nicht rum«, antwortete Anna ruhig. »Im vorigen Krieg wurde mein Sohn getötet, mein Otto. Damals war ich achtunddreißig, heute bin ich zweiundsechzig – aber ich habe es nicht vergessen.«
    Tuppence sah in das breite, undurchdringliche Gesicht. Es erinnerte sie an das Gesicht der Polin, der Wanda Polonska. Die gleiche erschreckende Wildheit, die gleiche dumpfe Beschränktheit – besessen von einem einzigen Trieb – Mutterschaft – kein Raum für einen anderen Gedanken! Zweifellos gab es auch in England solche Frauen. Mit Vertreterinnen dieser Gattung konnte man nicht diskutieren. Sowenig wie mit der Löwenmutter, der man ihr Junges genommen hat.
    Ganz undeutlich fühlte Tuppence in ihrem Hirn etwas rumoren – eine nagende Erinnerung, etwas, das stets dort genistet hatte, aber nie an die Oberfläche des Bewusstseins gelangt war. Salomon… es hatte mit König Salomon zu tun…
    Die Tür ging auf. Commander Haydock kam zurück.
    Vor Wut brüllte er: »Wo ist es? Wo haben Sie es versteckt?«
    Tuppence starrte ihn an. Sie war völlig verwirrt; sie verstand kein Wort von dem, was er sagte.
    »Raus!«, schrie Haydock Anna an.
    Die Frau gab ihm die Pistole zurück und verließ schnell das Zimmer.
    Haydock ließ sich auf einen Stuhl fallen und rang nach Fassung.
    »Sie können doch nichts damit anfangen«, keuchte er. »Sie sind in meiner Gewalt, und ich weiß, wie man Leute zum Reden bringt – angenehm ist das nicht. Sie werden mir schließlich doch die Wahrheit sagen müssen. Also heraus damit, was haben Sie damit gemacht?«
    Blitzschnell begriff Tuppence, dass sich ihr hier auf alle Fälle wenigstens eine Gelegenheit zum Verhandeln bot. Ein Aufschub! Aber wovon sprach er nur? Was glaubte er in ihrem Besitz?
    »Woher wissen Sie überhaupt, dass ich es habe?«, fragte sie vorsichtig.
    »Durch Ihre Antwort natürlich, verdammte Närrin! Jetzt können Sie mir nichts mehr vormachen! Bei sich tragen Sie es nicht, das ist klar. Sie haben sich ja ganz umgezogen, bevor Sie zu mir kamen.«
    »Und wenn ich es nun irgendwo sicher hinterlegt hätte?«, tastete Tuppence sich weiter.
    »Ach, Albernheiten! Alles, was Sie seit gestern an Briefen aufgegeben haben, ist überwacht worden. Sie haben nichts weggeschickt. Und wo wollten Sie in Leahampton etwas hinterlegen? Bleibt nur die eine Möglichkeit: Sie haben es heute Früh vorm Weggehen im Sans Souci versteckt. Ich gebe Ihnen drei Minuten, um mir das Versteck zu nennen.«
    Er legte seine Uhr auf den Tisch.
    »Drei Minuten, Mrs Beresford.«
    Die Uhr auf dem Kaminsims tickte.
    Tuppence saß ganz still da, mit unbeweglichem, undurchdringlichem Gesicht. Nichts verriet die rasende Flucht ihrer Gedanken. Wie in einem blendenden Licht sah sie plötzlich alles, die ganzen Zusammenhänge in schneidender Klarheit… ja, jetzt wusste sie, wer der Mittelpunkt, das Haupt der ganzen Organisation war.
    Es gab ihr einen Ruck, als Haydock jetzt sagte: »Noch zehn Sekunden…«
    Wie im Traum beobachtete sie ihn, sah ihn den Arm, die Pistole heben, hörte seine Stimme: »Eins,

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