Rousseau's Bekenntnisse
das, was ich Tags zuvor gelernt hatte, noch einmal durchzugehen oder im Garten zu arbeiten. Der Laden wurde geöffnet, ich ging, sie, die oft noch im halben Schlafe im Bette lag, zu umarmen, und diese eben so reine wie zärtliche Umarmung schöpfte selbst aus ihrer Unschuld einen Reiz, der mit der Sinnenlust nie verbunden ist.
Unser Frühstück bestand gewöhnlich aus Kaffee mit Milch. Es war die Zeit am Tage, in der wir am ungestörtesten waren und am ungezwungensten plauderten. In der Regel saßen wir ziemlich lange bei einander, was wohl meine lebhafte Vorliebe für die Frühstücke hervorgerufen hat, und ich ziehe die Sitte der Engländer und Schweizer, bei denen das Frühstück ein wahres Mahl ist, zu dem sich alle versammeln, der der Franzosen vor, bei denen jeder für sich allein auf seinem Zimmer frühstückt oder am häufigsten gar nicht frühstückt. Nach einem ein- oder zweistündigen Geplauder begab ich mich zu meinen Büchern und arbeitete bis zum Mittagessen. Ich begann mit irgend einem philosophischen Buche wie der Logik von Port-Royal, dem Essai von Locke, mit Malebranche, Leibnitz, Descartes, u.s.w. Ich nahm bald wahr, daß sich fast alle diese Schriftsteller in einem unaufhörlichen Widerspruche unter einander befanden, und ich entwarf den phantastischen Plan, sie in Übereinstimmung zu bringen, was mich sehr ermüdete und mir viel Zeit raubte. Ich verwirrte mir nur den Kopf und gelangte nicht weiter. Endlich gab ich auch diese Methode auf und befolgte eine unendlich bessere, der ich den ganzen Fortschritt, welchen ich trotz meines Mangels an Fassungskraft gemacht haben kann, beimesse; denn das ist ja sicher, daß ich für das Studium sehr wenig Fähigkeiten besaß. Ich machte es mir bei der Lectüre eines jeden Schriftstellers zur Regel, lediglich seinem Gedankengange zu folgen und ihn mir anzueignen, ohne meine Gedanken oder die eines Fremden hineinzumischen und ohne mich je in Streitigkeiten mit ihm einzulassen. Ich sagte mir: zunächst will ich mir einen Vorrath von Ideen verschaffen, ohne Rücksicht auf die Wahrheit oder Unwahrheit, wenn sie nur klar sind, bis mein Kopf genug in sich aufgenommen hat, um sie vergleichen und eine Wahl unter ihnen treffen zu können. Ich weiß wohl, daß diese Methode ihren Uebelstand hat, aber bei meiner Absicht mich zu belehren ist sie erfolgreich gewesen. Nachdem ich zwei Jahre damit zugebracht hatte, mir nur fremde Gedanken zu eigen zu machen, gleichsam mit Verzichtleistung auf jedes eigene Denken und Ueberlegen, besaß ich meines Bedünkens einen hinreichenden Schatz von Wissen, um mir selbst zu genügen und ohne fremde Hilfe denken zu können. Wenn es mir dann Reisen und Geschäfte unmöglich machten, meine Bücher zu Rathe zu ziehen, habe ich meine Freude daran gehabt, das Gelesene zu durchdenken und zu vergleichen, alles auf der Wage der Vernunft zu wägen und mir bisweilen ein Urtheil über meine Lehre zu erlauben. Ich habe allerdings erst später angefangen, meine Urteilskraft in Thätigkeit zu setzen, aber trotzdem nicht gefunden, daß sie deshalb an Kraft verloren hätte, und als ich meine eigenen Gedanken veröffentlichte, wurde ich nicht beschuldigt, längst Veraltetes wiederzukäuen, und in verba magistri zu schwören.
Von da wandte ich mich den Elementen der Geometrie zu, über die ich nie hinausgekommen bin, trotzdem ich beharrlich versuchte, mein schlechtes Gedächtnis durch hundert- und aberhundertfache Wiederholungen und stets neues Auswendiglernen der Anfangsgründe zu besiegen. Euklids Lehrbuch behagte mir nicht, da er mehr auf eine logische Aneinanderreihung der Beweise als auf eine Verknüpfung der Ideen ausgeht; ich gab der Geometrie des Pater Lamy den Vorzug, der seit jener Zeit einer meiner Lieblingsschriftsteller wurde, und dessen Werke ich auch noch jetzt mit Vergnügen lese. Hieran schloß sich die Algebra, ebenfalls nach Lamy's Anleitung. Als ich weiter gekommen war, hielt ich mich an Peter Rehnauds »Wissenschaft der arithmetischen Operationen«, dann an seine »Erklärung der Analyse«, die ich nur durchblättert habe. Ich habe es nie so weit gebracht, die Anwendung der Algebra auf die Geometrie vollkommen zu verstehen. Ich konnte mich für diese Berechnungsweise, bei der man nicht sieht, was man thut, nicht erwärmen; die Lösung einer geometrischen Aufgabe durch Gleichungen kam mir wie die Wiedergabe eines Liedes auf der Drehorgel vor. Als ich zum ersten Male durch Berechnung fand, daß das Quadrat eines zweitheiligen Satzes
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