Rousseau's Bekenntnisse
aufeinander folgen, so entreißt mich der eine immer der Ermüdung, die mich bei dem andern befallen hat, und ohne der Ruhe zu bedürfen, folge ich ihnen leichter. Ich nahm diese Beobachtung in meinen Studienplan auf und ließ eine solche Abwechselung eintreten, daß ich mich, ohne zu ermüden, den ganzen Tag über beschäftigte. Allerdings führten ländliche und häusliche Arbeiten nützliche Zerstreuungen herbei, aber in meinem wachsenden Eifer fand ich bald das Mittel, ihnen noch Zeit für das Studium abzusparen und mich gleichzeitig mit zweierlei Dingen zu beschäftigen, ohne zu bedenken, daß jedes dabei weniger gut von Statten gehen mußte.
Bei allen diesen unbedeutenden Einzelheiten, die mich entzücken und mit denen ich den Leser oftmals quäle, gehe ich jedoch so zurückhaltend zu Werke, wie er gewiß nicht ahnen würde, wenn ich ihn nicht absichtlich darauf aufmerksam machte. Mit Jubel erinnere ich mich hier zum Beispiel all der verschiedenen Versuche, die ich anstellte, um meine Zeit dergestalt einzutheilen, daß sie mir die größtmögliche Annehmlichkeit wie Nutzen gewährte, und ich kann sagen, daß diese Zeit, in der ich in der Zurückgezogenheit lebte und mich stets krank fühlte, gerade diejenige in meinem Leben war, in der ich am wenigsten müßig ging und am wenigsten Langeweile empfand. Zwei oder drei Monate gingen darüber hin, meine Geistesanlagen zu erforschen, und in der schönsten Jahreszeit und an einem Orte, den sie zauberisch machte, den Reiz des Lebens, dessen Werth ich so wohl erkannte, sowie den einer eben so freien wie süßen Geselligkeit zu genießen, wenn man einer so vollkommenen Vereinigung den Namen Geselligkeit geben kann, und mich an dem reichen Schatze schöner Kenntnisse zu erfreuen, die ich mir zu erwerben gedachte, denn es war für mich, als hätte ich sie schon besessen, oder vielmehr es war noch besser, weil die Freude am Lernen einen großen Theil meines Glückes bildete.
Ich muß diese Versuche übergehen, die zwar alle für mich Genüsse, aber doch zu einfache waren, um erklärt werden zu können. Noch einmal, das wahre Glück läßt sich nicht beschreiben, es muß empfunden werden, und man empfindet es um so besser, je weniger es sich beschreiben läßt, weil es nicht aus einer Reihe von Thatsachen hervorgeht, sondern ein bleibender Zustand ist. Ich wiederhole mich oft, aber ich müßte mich noch öfter wiederholen, wenn ich das Nämliche so oft sagte, wie es mir in den Sinn kommt. Als meine häufig wechselnde Lebensweise endlich einen gleichmäßigen Verlauf angenommen hatte, war mein Tag ungefähr folgendermaßen eingetheilt:
Ich stand jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf. Durch einen benachbarten Obstgarten stieg ich zu einem sehr hübschen Wege hinauf, der sich oberhalb der Weinberge immer an den Bergwänden entlang bis nach Chambery hinzog. Dort verrichtete ich beim Umherwandeln meine Morgenandacht, die nicht in einem leeren Lippendienst bestand, sondern in einer aufrichtigen Erhebung des Herzens zu dem Schöpfer dieser lieblichen Natur, deren Schönheit sich vor meinen Augen ausbreitete. In einem Zimmer habe ich nie gern gebetet; mir ist, als ob sich die Wände und all dieses kleine Menschenwerk zwischen Gott und mich drängten. Ich liebe ihn in seinen Werken anzuschauen, während sich mein Herz zu ihm erhebt. Meine Gebete waren, wie ich behaupten kann, rein und deshalb werth, erhört zu werden. Ich verlangte für mich wie für die, welche auch in meinen Gebeten unzertrennlich von mir war, nichts als ein unschuldiges und ruhiges Leben, frei von Laster, Schmerz und drückenden Entbehrungen, den Tod der Gerechten und das Loos, das ihrer im Jenseits wartet. Uebrigens verlief diese Morgenandacht mehr unter Bewunderung und Betrachtung als unter Bitten und Gebeten; und ich war überzeugt, daß bei dem Geber der wahren Güter das beste Mittel diejenigen, die wir bedürfen, zu erlangen, weniger darin besteht, sie zu erbitten als sich ihrer werth zu machen. Ich kehrte auf einem weiten Umwege von meinem Spaziergange zurück, auf dem ich mit Theilnahme und hohem Genusse die ländlichen Gegenstände, von denen ich rings umgeben war, betrachtete, die einzigen, welche Auge und Herz nie ermüden. Schon von weitem suchte ich zu erkennen, ob bei Mama schon Tag geworden war; sah ich ihren Fensterladen geöffnet, so überfiel mich ein freudiges Zittern und ich beeilte meine Schritte; war er noch geschlossen, blieb ich bis zu ihrem Erwachen im Garten und unterhielt mich damit,
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