Rousseau's Bekenntnisse
gestohlen, selbst wenn ich kostbarere Leidenschaften gehabt hätte. Auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt, lag es nicht in meinem Charakter, derartig für die Zukunft zu sorgen. Die Tribu gab mir Credit; die Abzahlungen waren klein; und wenn ich mein Buch eingesteckt hatte, dachte ich an nichts mehr Das Geld, über das ich ehrlicher Weise verfügen konnte, zahlte ich dieser Frau eben so ehrlich aus, und wenn sie dringend wurde, so nahm ich nur zu meinen eigenen Sachen meine Zuflucht. Stehlen im voraus war eine zu große Vorsorge, und stehlen, um zu bezahlen, war nicht einmal eine Versuchung.
Die ewigen Scheltworte, die Schläge, die heimliche und schlecht gewählte Lektüre machten mich schweigsam und menschenscheu; meine Willenskraft begann darunter zu leiden, und ich wurde gar griesgrämisch. Bewahrte mich jedoch mein Geschmack nicht vor dummen und faden Büchern, so bewahrte mich mein Glück vor schmutzigen und unzüchtigen. Nicht, daß die Tribu, eine in jeder Hinsicht sehr gefällige Frau, sich ein Gewissen daraus gemacht hätte, mir dergleichen zu leihen; aber um mir ihren Werth fühlbar zu machen, nannte sie sie mir mit einer geheimnisvollen Miene, die mich gerade nöthigte, sie sowohl aus Widerwillen als aus Scham zurückzuweisen; und der Zufall war meiner keuschen Schamhaftigkeit so günstig, daß ich schon über dreißig Jahre zählte, ehe ich die Augen auf eines jener gefährlichen Bücher geworfen hatte, welche eine schöne Weltdame um deswillen für unbequem erklärt, weil man sie nur mit einer Hand lesen kann.
In weniger als einem Jahre erschöpfte ich den kleinen Laden der Tribu, und nun wurde mir die Muße in meinen Freistunden zu einer wahren Pein. Von meinen Kinder- und Gassenjungenneigungen durch den Hang zur Lektüre und durch die Bücher selbst geheilt, die, obwohl ohne Auswahl und oft schlecht, doch in meinem Herzen wieder edlere Gefühle erweckten, als meine gegenwärtige Lage in mir hervorgerufen hatte; von allem angewidert, was mir zugänglich war, und alles, was mich hätte reizen können, mir zu fern fühlend, sah ich nichts Mögliches vor mir, das mein Herz hätte angenehm berühren können. Meine seit lange erregte Sinnlichkeit verlangte einen Genuß, dessen Gegenstand ich mir nicht einmal zu denken vermochte. Von dem wirklichen Genusse war ich so weit entfernt, als hätte ich gar kein Geschlecht gehabt; und schon in mannbarem Alter und mich nach Liebe sehnend, dachte ich noch bisweilen an meine Liebeleien, aber darüber hinaus sah ich nichts. In dieser seltsamen Lage nahm meine unruhige Einbildungskraft eine Richtung, die mich vor mir selber rettete und meine erwachende Sinnlichkeit beruhigte. Sie gefiel sich nämlich darin, sich mit den Situationen zu nähren, die mich bei meiner Lektüre gefesselt hatten, sie vor meine Seele zurückzurufen, sie zu ändern, sie zusammenzustellen, sie mir so zurecht zu machen, daß ich eine der handelnden Personen wurde, die ich mir dachte, daß ich mich stets in solchen Verhältnissen erblickte, die mir nach meinem Geschmacke am angenehmsten waren; kurz, daß die eingebildete Lage, in die ich mich vollkommen versetzt hatte, mich meine wirkliche Lage vergessen ließ, mit der ich so unzufrieden war. Diese Liebe zu Gebilden der Phantasie und diese Leichtigkeit, unaufhörlich mit ihnen zu verkehren, verleideten mir völlig meine ganze Umgebung und ließen diesen Hang zur Einsamkeit in mir aufkeimen, der mir seit jener Zeit für immer geblieben ist. Man wird in der Folge mehr als einmal die eigenthümlichen Wirkungen dieser so menschenfeindlichen und scheinbar so unheimlichen Neigung sehen, die aber in Wahrheit einem zu liebreichen, zu liebevollen, zu zärtlichen Herzen entspringt, welches gezwungen ist, sich mit Phantasiegebilden zu nähren, weil ihm Wesen fehlen, die ihm verwandt sind. Augenblicklich halte ich es genügend, den Ursprung und die erste Ursache einer Neigung angegeben zu haben, die auf alle meine Leidenschaften mildernd eingewirkt und indem sie dieselben durch sich selbst niederhielt, mich immer träge gemacht hat, meiner Begierde nachzugeben, eben in Folge der Heftigkeit meines Verlangens.
In solcher Weise erreichte ich mein sechszehntes Jahr, unruhig, unzufrieden mit allem und mit mir selbst, ohne Lust zu meinem Berufe, ohne Vergnügungen meines Alters, verzehrt von Begierden, deren Endzweck ich nicht kannte; weinend, ohne Grund zu Thränen; seufzend, ohne zu wissen, weshalb; kurz mit Zärtlichkeit an meinen Luftgebilden
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