Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Prolog
Herbst
Irial beobachtete, wie das Mädchen die Straße hochgeschlendert kam: Angst und Wut bestimmten ihre Aura. Er blieb im Schatten der Einfahrt neben dem Tattoo-Studio stehen und rauchte seine Zigarette zu Ende, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
In dem Moment, als sie vorbeiging, trat er heraus.
Der Puls unter ihrer Haut raste, als sie ihn sah. Aber trotz der Düsternis, die sie umgab, war sie unerschrocken; sie lief nicht davon und wich auch nicht vor ihm zurück. Stattdessen straffte sie die Schultern und zeigte auf seinen Arm. Dort standen – inmitten von geschwungenen Linien und Ornamenten, die sich zu stilisierten Hunden formten – in einer alten Schrift sein Name und seine Abstammung geschrieben. »Sieht toll aus. Ist das von Rabbit?«
Er nickte und ging die wenigen Meter zum Tattoo-Studio. Das Mädchen hielt mit ihm Schritt.
»Ich möchte mir auch bald eins machen lassen. Ich weiß bloß noch nicht, was ich nehmen soll«, sagte sie mit einem herausfordernden Blick, und als er nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Ich bin Leslie.«
»Irial.« Er sah, dass sie fieberhaft darüber nachdachte, was sie noch sagen könnte, damit er sie beachtete. Sie sehnte sich verzweifelt nach irgendetwas. Hätte er Verwendung für sterbliche Gespielinnen gehabt, wäre sie genau der richtige Zeitvertreib gewesen. Doch er war in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs und nicht, um wertloses Spielzeug zu sammeln, also hielt er ihr stumm die Tür zum Pins and Needles auf.
Im Laden gesellte sich Leslie zu einem dunkelhaarigen Mädchen, das sie beide aufmerksam beobachtet hatte. Es waren noch andere Kunden im Laden, doch nur dieses dunkelhaarige Mädchen war von Bedeutung. Da Irial einst den Fluch ersonnen hatte, der den Sommer so viele Jahrhunderte lang geschwächt hatte, wusste er genau, wer sie war: die lange gesuchte Sommerkönigin, das Problem. Sie würde alles verändern.
Und zwar bald.
Das war Irial schon in dem Moment klar gewesen, als Keenan sie ausgewählt, ihr ihre Sterblichkeit geraubt hatte. Und das war auch der Grund, weshalb er Rabbit aufsuchte: Ein Wandel stand bevor. Jetzt, wo der Sommerkönig seine Fesseln abgestreift hatte – und damit auch zum Schlag gegen all diejenigen ausholen konnte, die ihn in die Falle gelockt hatten –, bestand zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder die reale Gefahr eines Krieges. Oder, schlimmer noch, die Gefahr von zu viel Frieden und Ordnung.
»Hast du einen Moment für mich, Rabbit?«, erkundigte sich Irial, doch es war eher eine Formalität als eine ernstgemeinte Frage. Rabbit mochte zwar kein vollwertiger Elf sein, doch dem König der Finsternis würde er kaum etwas abschlagen, weder jetzt noch jemals sonst.
»Komm mit nach hinten«, erwiderte Rabbit.
Im Vorübergehen ließ Irial seine Hände über eine der Vitrinen mit den Stahlkanten gleiten; ihm war nicht entgangen, dass Leslie ihn immer noch gebannt anstarrte. Er schloss die Tür und überreichte Rabbit die braunen Glasfläschchen – Blut und Tränen vom Hof der Finsternis. »Der Tintentausch muss eher stattfinden als geplant. Wir müssen uns beeilen.«
»Aber die Elfen könnten …«, Rabbit hielt kurz inne und setzte dann neu an, »… sie könnten dabei sterben; und die Sterblichen erholen sich nicht gerade gut.«
»Dann sorg dafür, dass es funktioniert. Sofort .« Irial versuchte zu lächeln, was er für die Dunkelelfen nur selten tat, und seine Züge wurden weicher.
Dann machte er sich unsichtbar und folgte Rabbit zurück in den Verkaufsraum. Eine ungesunde Neugier ließ ihn kurz neben Leslie verharren. Die anderen Kunden waren gegangen, aber sie stand noch immer da und betrachtete die Tattoo-Vorlagen an der Wand – Motive, die noch gar nichts waren im Vergleich zu dem, was Rabbit ihr in die Haut zeichnen konnte, wenn er die Gelegenheit dazu bekam.
»Träum von mir, Leslie«, flüsterte Irial und legte seine Flügel um sie, so dass er sie beide damit umfing. Vielleicht war dieses Mädchen ja stark genug, um die mit dem Blut einer ausgewählten Elfe vermischte Tinte auszuhalten. Wenn nicht, konnte er sie immer noch an eine der schwächeren Elfen weiterreichen. Aber es wäre eine Schande, solch ein hübsches zerbrochenes Spielzeug ungenutzt zu lassen.
Eins
Zu Beginn des nächsten Jahres
Leslie schlüpfte in ihre Schuluniform und machte sich so schnell wie möglich fertig. Dann zog sie ihre Zimmertür leise hinter sich zu und bewegte sich möglichst geräuschlos, um aus dem
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