Rubinrotes Herz, eisblaue See
Sonntagmorgen musste er sie für seinen Termin mit Jesus zurückholen.
Grand saß auf der Rückbank zwischen Bud und mir. Maureen, die bisher genauso still war wie ihre Mutter, saß vorne zwischen ihren Eltern, sodass von ihr nur ein Stück des Kopfes mit dem glatten braunen Haar zu sehen war. Grand summte mit zittriger Stimme ein Kirchenlied und wippte dazu im Takt mit dem Knie. Ida summte mit. Bud schaute aus dem Fenster, in Gedanken wahrscheinlich mit seiner Flucht beschäftigt.
Nachdem Sam den Wagen geparkt hatte, betraten wir die kleine weiße Kirche, und Grand ging mit mir nach vorn bis zur ersten Reihe. Wir setzten uns zu ein paar älteren Damen, die auf der von zahllosen warmen, hin und her rutschenden Hintern polierten Bank für uns Platz machten. Dort überließ Grand mich Jesus, hob ihre Augen zu Pastor Billy und sagte mit klarer Stimme »Amen«.
An diesem Ort wirkte Pastor Billy wie ein Möwerich auf dem Gipfel seiner Lebenskraft. Seine Predigten waren kraftvoll und sanft, voller Geschichten von Liebe und Vergebung. Er predigte nie Hölle und Verdammnis. Er verstand, womit seine Gemeindemitglieder es jeden Tag zu tun hatten, wenn sie aufs Meer hinausfuhren. In einem einzigen Moment konnte alles aus dem Ruder laufen. Sie brauchten Trost, keine Drohungen.
Jeden Sonntag fragte er mich, wie es mir ging. Seine Hände waren groß im Vergleich zu seinem Körper, voller Schwielen und Narben vom Fischen. Er legte mir immer eine davon auf den Kopf und ließ sie dort einen Moment ruhen, als wollte er gute Wünsche in mein Herz senden. Dann fuhr Sam wieder mit uns nach Hause, und der Rest des Tages gehörte mir.
An einem Sonntagnachmittag Ende Juni kam mir die Idee, zu der Stelle zu gehen, wo ich das rote Glasherz ins Meer geworfen hatte. Pastor Billy hatte in seiner Predigt von Jonas erzählt, der in die tobenden Wellen geworfen worden war, und wie das Meer sich daraufhin beruhigt hatte, und das erinnerte mich an den Tag im Winter.
»Ich gehe ein bisschen spazieren«, sagte ich zu Grand.
»Aber nicht zu lange«, erwiderte sie. »Ich mache das Sonntagsessen und brauche nachher deine Hilfe.«
Ich ging über die Straße und an Daddys Haus vorbei, wobei mir ein abstoßendes Bild von Daddy und Stella durch den Kopf schoss, dann bog ich scharf nach links ab und ging den Hügel hinauf zu den Cheeks und von dort weiter in das Naturschutzgebiet. Die Luft war süß und warm wie Babyatem, und mir war, als liefe Carlies Geist neben mir her. Ich hatte mich nicht geirrt, sie war hier, genau wie an dem schrecklichen Neujahrstag. Mein Herz wurde leichter, als ich mich den Klippen näherte. Doch dann blieb ich abrupt stehen. Dort saß jemand auf einer Steinbank, die im Winter noch nicht da gewesen war.
Der Mann hielt den Kopf gesenkt und sah vor sich auf den Boden. Die Sonne schien auf sein blondes Haar und ließ es schimmern wie Gold. Dann blickte er auf und drehte sich um, als hätte er gespürt, dass da jemand stand, und unsere Blicke trafen sich. Es war Mr. Barrington. War es erst ein Jahr her, dass wir uns in einer Reihe vor ihm aufstellen und uns dafür entschuldigen mussten, dass wir beinahe sein Haus abgebrannt hätten?
Falten, die in meiner Erinnerung letztes Jahr noch nicht da gewesen waren, durchzogen seine Stirn. Er sah mich verwirrt an. »Wer …?«, flüsterte er. »Wer bist du?«
»Florine Gilham«, sagte ich, während ich überlegte, wie ich mich aus dem Staub machen könnte, ohne dass es wie eine Flucht aussah.
»Natürlich.« Er stand auf und streckte die Hand aus. Ich verstand nicht, wieso wir uns im Wald die Hand geben sollten, aber Grand hätte gewollt, dass ich höflich war, und Mr. Barrington war kein Fremder, also gab ich ihm die Hand. Er drückte sie fest, dann ließ er sie los.
»Setz dich«, sagte er und deutete auf die Bank. Ich setzte mich, wartete jedoch auf die erstbeste Gelegenheit, wieder zu gehen.
»Ich komme schon seit vielen Jahren hierher«, sagte Mr. Barrington, den Blick aufs Meer gerichtet. »Schon seit lange vor deiner Geburt. Jetzt habe ich der Forstverwaltung endlich Geld gegeben, damit sie hier eine Bank aufstellt.« Wir standen auf, und er zeigte mir eine kleine Messingplatte, auf der eingraviert war: »Vereinzelt auf dem Lebensmeer wir sind: Vernunft ist Kompass, Leidenschaft der Wind. - Alexander Pope«. Ich überlegte, ob Alexander Pope ein Verwandter von ihm war, aber ich traute mich nicht zu fragen.
Wir setzten uns wieder, und ich sah hinunter auf Mr. Barringtons
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