Rubinrotes Herz, eisblaue See
Daddy.
»Bceuf Stroganoff«, sagte Stella.
»Klingt wie eine neue Wodkasorte«, sagte Daddy, und Stella kicherte. »Alberner Kerl.«
Daddy hob die Gabel zum Mund, doch Stella legte ihm die Hand auf den Arm. »Hast du nicht etwas vergessen?«
Daddy sah sie verwirrt an.
»Sie meint das Tischgebet«, sagte ich. »Das hat sie doch beim letzten Mal auch gesprochen.«
Stella senkte den Kopf und sagte ein paar Worte.
Daddy murmelte »Amen« und schob sich die erste Portion Nudeln in den Mund. Dann lehnte er sich zurück und lächelte Stella strahlend an. »Lieber Gott«, sagte er, »ich weiß nicht, wann ich zuletzt so was Gutes gegessen habe. Aber«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, »es fehlt noch ein bisschen Salz.«
»O je«, sagte Stella. »Habe ich nicht genug reingetan?«
»Doch, bestimmt«, sagte er und griff nach dem Salzstreuer, »aber ich mag’s gern kräftig gesalzen.«
»Salz ist nicht gut für dich.«
Daddy lachte. »Ich weiß, aber ein bisschen Spaß muss doch sein, oder?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Bin ich nicht Spaß genug?«
»Ich mag mein Essen einfach salziger als andere«, stammelte er.
»Von mir aus«, sagte Stella pikiert, »dann tue ich demnächst eben mehr rein.«
Daddy stellte den Salzstreuer wieder hin. »Oh, es ist gut so, wie es ist, nicht wahr, Florine?«
»Hunde fressen auch Scheiße, aber ich bin ja schließlich kein Hund«, sagte ich.
Stellas Augen verwandelten sich in spitze Glasscherben. »Das war deutlich.«
»Sie hat hier am Tisch nichts verloren«, sagte Daddy, das Gesicht rot vor Zorn. »Geh in dein Zimmer.«
»Hättest mich ja gleich da lassen können.«
Ich schob den Stuhl zurück, ging in mein Zimmer, knallte die Tür zu und legte eine Elvis-Platte auf. Jailhouse Rock, ganz laut. Ich stellte mir vor, wie Carlie genau in diesem Moment zurückkam und mitten in ihr Abendessen platzte. Sie würde »Hallo, Stella!« sagen, sich setzen, Spaghetti auf ihren Teller füllen, sich bei Stella bedanken, und dann würde alles wieder seinen normalen Gang gehen.
Nach etlichen Durchgängen nahm ich Elvis vom Plattenteller, schlüpfte unter die Decke und schlief. Einige Zeit später wachte ich auf, weil ich hörte, wie Stella weinte und Daddy mit ihr redete. Leise kroch ich aus dem Bett und öffnete die Tür einen winzigen Spalt, um sie sehen zu können. Sie standen an der Haustür, und Stella hatte ihren Mantel an.
»Es ist noch zu früh«, sagte sie. »Ich sehe immer noch Carlie in deinen Augen. Und damit komme ich nicht klar.«
»Es wird eine Weile dauern«, sagte Daddy. »Du musst geduldig mit mir sein.«
»Florine will mich hier nicht haben. Und ich will mich ihr nicht aufzwingen.«
Daddy trat auf sie zu, doch sie wich zurück. »Stella«, sagte er.
»Ich habe jahrelang auf dich gewartet, Leeman«, sagte Stella. »Es war hart, zuzusehen, wie Carlie ein Kind von dir bekam. Das wollte ich mit dir haben.«
»Es tut mir leid.«
»Gute Nacht«, sagte sie und ging.
»Die Hexe ist tot«, sagte ich am nächsten Tag in der Schule zu Dottie.
»Ding-Dong«, sagte Dottie.
Doch zwei Abende darauf, als ich im Bett lag, hörte ich, wie Daddy jemandem die Haustür aufmachte. Vorsichtig spähte ich aus meinem Zimmer. Daddy und Stella standen im Flur, küssten sich und machten komische Geräusche. Sie taumelten in Daddys Schlafzimmer, und keine Minute später fing das Bett an zu quietschen, als strampelte ein Hamster in einem rostigen Laufrad.
Da reichte es mir. Ich zog Carlies Koffer unter dem Bett hervor, in den ich schon ein paar Kleider und andere Sachen gepackt hatte, die ich brauchen würde. Ich legte Carlies Lieblings-Elvis-Platte obendrauf und klappte den Deckel wieder zu. Dann öffnete ich das Fenster, warf den Koffer hinaus und kletterte hinterher. Daddy war nicht der Einzige, der Heimlichkeiten hatte. Während er mit seinen Turteleien beschäftigt gewesen war, hatte ich hier und da etwas Geld aus seinem Portemonnaie und seinen Taschen stibitzt. Ich hatte genug, um nach Long Reach zu gehen, von dort mit dem Bus nach Crow’s Nest Harbor zu fahren und meine Mutter zu suchen.
Es war ungefähr elf Uhr, und die Aprilnacht war dunkel und kalt. Ich lief die Einfahrt hinunter und sah Richtung Wasser. Bei den Warners und den Butts brannte kein Licht mehr. Ich stellte mir vor, wie sie alle friedlich und sorglos schliefen, und Neid loderte in mir auf wie ein Buschfeuer. Sie hatten einander, und Daddy hatte jetzt Stella. Ich war ganz allein.
Diese Erkenntnis traf mich
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