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Rubinrotes Herz, eisblaue See

Rubinrotes Herz, eisblaue See

Titel: Rubinrotes Herz, eisblaue See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morgan Callan Rogers
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Ziegelstein hinter dem Herd heraus, wo Grand ihr Bargeld versteckt hatte. Ich fischte einen Zwanziger aus dem Bündel und verstaute den Rest wieder. Dann verließ ich zum ersten Mal seit einem Monat das Haus und ging zu Rays Laden.
    Die kalte Luft zwickte mich in die Nase, und ich zog die Jacke fest um mich, als ich die Straße hinauflief. Ray saß an der Kasse und las die Morgenzeitung. Er sah mich über seine Lesebrille hinweg an und sagte, als wäre ich gestern erst da gewesen: »Na, kalt genug für dich?«
    »Noch ein paar Grad weniger, dann können wir es Winter nennen«, sagte ich.
    »Was darf’s denn sein?«
    »Ach, ich brauch alles Mögliche.«
    »Na, du weißt ja, wo die Sachen stehen«, erwiderte er und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
    Ich ging den schmalen Gang entlang und überlegte, was ich brauchte. Ich stand gerade vor der Blockschokolade und dachte darüber nach, ob ich Brownies backen sollte, als Ray fragte: »Wie sieht’s dieses Jahr eigentlich mit den Kränzen aus?«
    »Ach herrje!« Ich hatte völlig vergessen, dass Grand jedes Jahr die Weihnachtskranzproduktion leitete. Daddy und ein paar andere, die Lust dazu hatten, gingen mit dem Segen des Rangers in den Wald, schnitten Fichtenzweige, bündelten sie und schleppten sie zu Grands Haus. Die Frauen von The Point brachten Beeren, Stechpalmenzweige, glitzernde Christbaumkugeln und Kiefernzapfen mit, und dann setzten sie sich um Grands Küchentisch und bastelten Kränze, die auf dem Weihnachtsbasar der Grundschule verkauft wurden. Ein paar von den schöneren - Ida machte die besten Kränze - wurden über Ray an die Sommergäste verschickt, weil sie zu Weihnachten gerne einen Hauch von Maine haben wollten. Jedes Jahr waren wir ausverkauft. Und ich hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht. Ich muss ausgesehen haben wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, denn Ray meinte: »Wir können ja auch mal ein Jahr aussetzen.«
    »Nein, können wir nicht.«
    »Wir haben fünf Bestellungen aus Connecticut«, sagte Ray. »Und zwei aus Massachusetts.«
    »Okay.« Meine Gedanken rutschten durcheinander wie Pantoffeln auf gebohnerten Dielen. »Tja, dann sollten wir uns wohl zusammensetzen.«
    »Am besten redest du mal mit Madeline. Sie kann bestimmt helfen.«
    Ich kaufte Milch und einen Schokoriegel und ging zurück zu Grands Haus, das jetzt mein Haus war. Sie hatte mir alles hinterlassen, nur keinen Hinweis, wie viel sie allen hier wirklich bedeutet hatte. Ich setzte mich in meinen Schaukelstuhl auf der Veranda und aß den Schokoriegel zum Frühstück. Ich pulte gerade mit dem Finger das Karamell von den Zähnen, als das Telefon klingelte.
    Ich stolperte über Grands Strickkorb, sodass die Wollknäuel in alle Richtungen rollten.
    »Wir haben gerade noch zwei Bestellungen bekommen«, sagte Ray, als ich den Hörer abnahm. »Kränze für Mrs. Gaul, und sie wollte wissen, ob Grand den Pullover fertig hat, den sie ihr für ihre Tochter versprochen hatte.«
    »Ich hab keine Ahnung, Ray. Sie hat mir keine Liste hinterlassen.«
    »Na ja, wenn du einen Pullover in Kindergröße findest, bring ihn vorbei, ich schicke ihn dann weg.«
    Ich legte auf und rieb einen klebrigen Fingerabdruck vom Telefon. »Wo hast du mich bloß noch überall reingezogen?«, murmelte ich.
    Ich sammelte das Garn ein und legte es zurück in den Strickkorb. Neben dem Korb lag eine kleine Tüte. Ich spähte hinein. Im Innern lag ein halb fertiger Kinderpullover. Als ich die festen kleinen Maschen an meine Nase hob und den Duft nach Wolle einsog, überfluteten mich mit voller Wucht die Erinnerungen daran, wie Grand strickend und summend neben mir gesessen hatte, während ich las, das feine Haar zerzaust, das silberne Brillengestell im Licht funkelnd. Dottie und ich hatten uns über das einzelne borstige Haar an ihrem Kinn lustig gemacht. Ihr Schnurrhaar, hatte sie es genannt.
    »Warum schneidet sie es nicht ab?«, hatte Dottie mich gefragt.
    »Sie meint, Gott hat es da gepflanzt, also bleibt es auch da.«
    »Falls ich auch so was kriege, wenn ich alt und senil bin und im Heim und nichts mehr mitkriege, dann sorg dafür, dass sie es mir auszupfen, ja?«
    »Nur wenn du dafür sorgst, dass sie mir keine lila Pudelfrisur verpassen.«
    »Einverstanden.«
    Wir hatten sie mit ihrem Schnurrhaar beerdigt. In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, es noch einmal zu sehen. Ich drückte den kleinen halb fertigen Pullover an mich, bis ich wieder stehen konnte, ohne zusammenzubrechen. Dann ging ich zu

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