Rueckkehr nach Abbeydale
zerbrechlich und war immer sorgfältig manikürt. Kate war es nach wie vor ein Rätsel, daß Lydia und ihre Mutter sich angefreundet hatten und diese Freundschaft seit über dreißig Jahren aufrechterhielten.
Der Zug fuhr nun durch die Dales, weite Hochlandtäler mit grünen Weiden und vereinzeltem Baumbestand. Die kleinen Bauernhäuser aus Naturstein fügten sich harmonisch in die Landschaft.
Cherry blickte wie gebannt aus dem Fenster. Nach Lydias Anruf zu Weihnachten hatte sie Kate mit Fragen über Abbeydale und seine Bewohner gelöchert.
Zuerst hatte Kate nicht fahren wollen, aus Angst, der Besuch zu Hause könnte zu viele schmerzliche Erinnerungen wachrufen. Lydia hatte sie allerdings behutsam darauf hingewiesen, daß sie auch auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen müßte, besonders auf die ihrer Tochter.
„Sie ist eine Seton, Kate”, hatte sie betont. „Sie liebt das Landleben. Außerdem haben die Zeiten sich geändert, und es ist mittlerweile keine Schande mehr, unehelich geboren zu sein. Dein Vater hat sich dir gegenüber nicht richtig verhalten, aber er und deine Mutter vermissen dich. Sie lieben dich.”
„Cherry möchte Tierärztin werden”, hatte Kate zusammenhanglos erwidert. Im Geiste hatte sie Lydia lächeln sehen – so wie Lydia immer lächelte, wenn sie wußte, daß sie gewonnen hatte. Und nun stand das Wiedersehen unmittelbar bevor, vor dem Kate sich seitdem insgeheim fürchtete.
Der Zug verlangsamte nun das Tempo, fuhr durch einen Tunnel und schließlich wieder in das gleißende Licht der Julisonne. Kurz darauf rollte er in den kleinen Bahnhof ein, der liebevoll mit Blumen geschmückt war.
Nachdem Kate aufgestanden war und ihre Sachen zusammengesucht hatte, ging sie mit Cherry zur Tür. Als sie aus dem Fenster sah, konnte sie ihren Vater nirgends entdecken. Am liebsten wäre sie sofort wieder nach London zurückgekehrt, wo sie seit ihrem Universitätsabschluß als Lehrerin arbeitete und wo sie sich jetzt zu Hause fühlte. Sie liebte ihre Arbeit, weil sie viele Herausforderung bot. Außerdem hatte sie Kinder sehr gern.
Als der Zug anhielt, zögerte sie einen Moment, bevor sie die Tür öffnete. Cherry und sie waren die einzigen Passagiere, die ausstiegen, und Kate fühlte sich plötzlich in die Vergangenheit zurückversetzt. Es kam ihr vor, als wäre sie wieder achtzehn und würde ihre Eltern übers Wochenende besuchen.
Und war das nicht Mr. Meadows, der ihre Fahrkarten entgegennahm? Schon damals war er ihr uralt erschienen, doch als sie ihm lächelnd die Fahrkarten reichte, stellte sie fest, daß er erst ungefähr Mitte Sechzig war.
„Dein Vater wartet auf dem Parkplatz auf euch”, erklärte er, während er sie freundlich musterte. „Und das ist die Kleine, nicht? Sie ist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, stimmt’s?”
„Seh– ich wie Grandma aus?” fragte Cherry neugierig, als sie durch die Schalterhalle gingen.
„Ein bißchen …”
Nur weil sie mir ähnlich sieht, dachte Kate. Ihre Eltern waren Cousin und Cousine zweiten Grades und sahen sich sehr ähnlich. Sie waren beide hager und drahtig, doch das Haar ihrer Mutter war nicht so rot wie Kates.
Auf dem Parkplatz stand nur ein Wagen, ein alter Landrover, neben dem ein Mann wartete.
Als Kate ihren Vater erkannte, krampfte ihr Magen sich vor Angst zusammen. Da ihr Vater immer Hütehunde ausgebildet hatte, war früher stets ein Hund in seiner Nähe gewesen. Auch jetzt lag ihm einer zu Füßen. Er war schwarzweiß und hatte sehr intelligente Augen. Cherry blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete ihn entzückt.
Unterdessen musterte Kate ihren Vater. Er war älter geworden – aber waren sie das nicht alle? –, und natürlich hinterließ die harte Arbeit in diesem Klima ihre Spuren in der Physiognomie der Bewohner.
Ein wenig trotzig erwiderte er ihren Blick. Plötzlich merkte Kate, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Dann tat sie etwas, das sie eigentlich nicht beabsichtigt hatte: Sie lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
Ihr Vater erwiderte die Umarmung ein wenig unsicher, wie jemand, der es nicht gewohnt war, seine Gefühle durch Zärtlichkeiten auszudrücken. Schließlich löste er sich von ihr und sagte schroff: „Ja, die Kleine ist eine richtige Seton.” Sie hätte schwören können, daß seine Augen ein wenig glänzten, als er Cherry ansah.
„Der Mann am Bahnhof hat gesagt, daß ich Grandma wie aus dem Gesicht geschnitten bin”, erklärte Cherry wichtigtuerisch.
Sofort runzelte er
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