Elfenzeit 3: Der Quell der Nibelungen - Themsen, V: Elfenzeit 3: Der Quell der Nibelungen
Prolog
Der Fall
Alebin strich eine Strähne seines blassblonden Haares zurück und hob sein helles Gesicht. Licht fiel durch eines der Bogenfenster des Saales im Herzen des Baumschlosses der Sidhe Crain. Niemand der anderen wartenden Angehörigen der Elfenvölker des Reiches, die den weiten Audienzraum mit ihrem Raunen und dem Rascheln ihrer Gewänder erfüllten, hatte das welke Blatt bemerkt, das von einem Windstoß durch die Öffnung getrieben worden war. Lediglich Alebins wasserblaue Augen sahen dem Fall des Blattes zu, das im Schimmer des diffus durch Äste und Laub dringenden Lichtes langsam kreisend niedersank. Alebins Gedanken folgten dabei einer ähnlichen Spirale in die Hoffnungslosigkeit.
Verfall.
Sterben.
Endgültiger Tod.
Niemals zuvor hatten diese Begriffe für Elfen Bedeutung besessen. Doch nun wechselte das Grün der Blätter des riesigen Baumes, dessen Krone das Reich Crain beschattete, zu Gelb und Braun. Immer höher wuchsen die Haufen welken Laubes, die aus dem Baumschloss gekarrt wurden. Es war schnell klar geworden, dass das Sterben nicht auf den Baum oder die anderen Pflanzen beschränkt war, die ringsherum verblühten und verwelkten.
Man musste nur einen Blick auf die breite weiße Strähne im dunklen Haupthaar des Königs werfen, um zu wissen, dass auch die Elfen Crains betroffen waren. Vielleicht zog sich der Verfall sogar durch alle Teile des vom Thron der Crain aus beherrschten Reiches Earrach oder gar durch die gesamte Elfenwelt. Niemand konnte es genau sagen, denn alle Tore waren versperrt. Alle außer dem zur Welt derer, die schon immer sterblich gewesen waren.
Niemand würde den Elfen Crains helfen können. Sie waren dem Altern und dem Tod preisgegeben, einem endgültigen Tod, in dem selbst ihre Schatten verwehten, anstatt sich im Reich Annuyn zu manifestieren, wo zumindest ihre Erinnerungen bewahrt worden wären.
Das endgültige Ende Crains stand bevor – wenn sich nicht ihr Herrscher der einzigen Macht zuwandte, die groß genug war, um Hilfe bringen zu können. Und heute würde Alebin ihn daran erinnern, wo diese Macht zu finden war.
1 Ein Schreck im Zug
Rian starrte durch das Fenster des Abteils auf den breiten grauen Fluss, über den sie gerade hinwegfuhren, und auf die schmutzig wirkenden Industriegebäude und Lagerhallen am Ufer. Kalter Nieselregen traf das Fensterglas und lief in schmalen Rinnsalen herab, die vom Fahrtwind des Zuges zur Seite getrieben wurden. Die zierliche blonde Elfe folgte mit dem Finger einer Wasserspur und seufzte leise. Tief in ihr erwachte die Sehnsucht nach den bunten Lichtern und dem Leben der Straßen von Paris und eine noch stärkere nach ihrer eigentlichen Heimat, in der es niemals grau und trüb gewesen war, ehe die Zeit ihren Weg dorthin gefunden hatte.
Doch nach Crain konnte sie erst zurückkehren, wenn sie und ihr Bruder die Kunde vom Quell des Ewigen Lebens hatten. Selbst die Kinder Fanmórs durften es nicht wagen, dem König unter die Augen zu treten, ehe ihr Auftrag erledigt war; insbesondere wenn so viel davon abhing. Ganz Crain wartete auf das, wonach sie suchten, und vielleicht benötigte es sogar ganz Earrach oder die gesamte Elfenwelt.
Rian fuhr mit einer Hand durch ihr kurzes, strubbeliges Haar und schloss einen Moment die Lider über ihren vollständig violetten Augen. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass die Katastrophe, welche die Crain getroffen hatte, alle Elfen bedrohte.
Die Elfe öffnete wieder die Augen und musterte ihren Bruder, der ihr gegenübersaß und mit gelangweilter Miene in einem Bahnmagazin blätterte. Er war nur Rian zuliebe mit in die Menschenwelt gekommen, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht voller Verachtung von den Sterblichen, ihrer Lebensweise und ihrer Art sprach. Er hatte schlimmeres Heimweh als Rian, das war ihr klar. Und manchmal tat er ihr leid. Vor allem aber war sie froh, nicht allein zu sein. Sie hätte sich niemals vorstellen können, ihre Welt ohne ihren Zwillingsbruder zu verlassen. Glücklicherweise war ihr Vater der Ansicht gewesen, sie sollten gemeinsam gehen.
Und auch um ihre weiteren Begleiter war sie froh. Sie sah neben sich, wo der Grogoch über den freien Teil der Sitzbank hingestreckt lag und mit offenem Mund leise vor sich hin schnarchte. Der freundliche Feenkobold, dessen Körper von nichts als seinem eigenen Haar bedeckt wurde, hatte schon früher gelegentlich gemeinsam mit Fanmór die Menschenwelt besucht. Deshalb hatte der Herrscher ihn seinen Kindern als Helfer
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