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Rückkehr von den Sternen

Rückkehr von den Sternen

Titel: Rückkehr von den Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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meiner Richtung abzukommen, als hätte ich wirklich ein gestecktes Ziel vor mir. Mein Herz schlug stark, meine Lungen keuchten, und ich gelangte hoch und höher, wie benommen. Instinktiv spürte ich, daß eben eine solche Anstrengung für mich notwendig war. Ich riß die verhakten Zweige der Zwergkiefern auseinander, blieb manchmal in ihrem Dickicht stecken, befreite mich mit Gewalt und ging weiter. Die Nadeln zerkratzten mein Gesicht, meine Brust, hakten sich in meine Kleider ein, meine Finger waren schon ganz verklebt von Harz. Auf einer freien Stelle traf mich unerwartet der Wind, griff mich in der Dunkelheit an, tobte ungehindert und pfiff irgendwo, hoch oben, wo ich mir den Gipfel vorstellte. Inzwischen wurde ich von weiteren, dicken Zwergkieferngruppen verschlungen. Wie Inseln ruhten darin Schichten einer gewärmten, reglosen Luft, stark mit ihrem Duft gesättigt. Auf meinem Weg wuchsen unsichtbare Hindernisse auf – Felsbrocken, Felder kleiner, unter den Füßen wegrollender Steine.
    Ich mußte so wohl schon ein paar gute Stunden gegangen sein, spürte in mir aber immer noch genug Kräfte. Dabei war ich am Verzweifeln: die Felsrinne, die zu dem unbekannten Kamm oder vielleicht auch zum Gipfel führte, wurde jetzt so schmal, daß ich vor dem Hintergrund des Himmels zugleich ihre beiden Seiten sah – hochgereckt löschte sie mit ihren dunklen Rändern die Sterne.
    Längst hatte ich die Sphäre der Nebel unter mir gelassen, aber diese kühle Nacht war mondlos, die Sterne gaben nur wenig Licht. Um so mehr erstaunte ich, als über mir und um mich lange, weißliche Gestalten erschienen. Sie ruhten in der Dunkelheit, ohne sie zu erhellen, als ob sie das Tageslicht eingesogen hätten – erst das erste rauhe Knirschen unter den Sohlen machte mir klar, daß ich auf Schnee trat.
    Er bedeckte mit einer dünnen Schicht fast den ganzen Rest des steilen Hangs. Ich war nur leicht bekleidet und hätte wegen der Kälte wohl bald umkehren müssen, aber unerwarteterweise legte sich der Wind. Um so deutlicher erklang in der Luft das Echo meiner Schritte – bei jedem durchbrach ich die Oberfläche des verharschten Altschnees und sank bis zur halben Wade ein.
    Auf dem Kamm selbst war schon fast kein Schnee mehr. Ganz leergefegt standen über dem Steinfeld schwarze riesige Felsbrocken. Ich hielt mit klopfendem Herzen inne und schaute in Richtung Stadt. Sie war durch den Hang verdeckt, nur ein rötlicher Schimmer verriet ihre Lage im Tal. Ich ging noch ein paar Schritte und setzte mich dann auf einen sattelförmigen Felsbrocken. Vor ihm lag etwas Schnee, der angeweht worden war. Jetzt sah ich nicht einmal die letzten Lichtspuren der Stadt. Vor mir stiegen in der Dunkelheit die Berge auf, gespenstisch, mit schneegekrönten Gipfeln.
    Als ich aufmerksam den rechten Horizont betrachtete, sah ich einen Streifen ersten Tageslichts, der die Sterne verwischte – den Anfang eines neuen Morgens. Darin zeichnete sich der steile, in der Mitte geborstene Felsgrat ab. Und dann geschah plötzlich etwas in meiner Reglosigkeit: die gestaltlose Dunkelheit – oder die, die in mir war? – begann sich zu rühren, hinabzugleiten, ihre Macht zu verlieren. Ich war davon so benommen, daß ich einen Augenblick lang fast das Augenlicht verlor, und als ich es wiedererlangte, sah ich alles ganz anders.
    Der Himmel graute im Osten schwach über dem völlig dunklen Tal, vertiefte auch das Schwarz der Felsenkette, ich konnte aber blindlings auf jede ihrer Unebenheiten, jede Lücke weisen, wußte schon, was für ein Bild der Tag mir enthüllen würde, denn dieses Bild war für immer in mir eingezeichnet. Das war der unveränderliche Besitz, den ich so herbeigesehnt hatte, der unangetastet geblieben war, während meine ganze Welt in der anderthalb Jahrhunderte tiefen Zeitschlucht zerfallen und verschwunden war:
    Hier, in diesem Tal, hatte ich meine Jugendjahre verbracht – in dem alten, hölzernen Haus auf dem gegenüberliegenden, grasbewachsenen Hang des Wolkenfängers. Von dem alten Bau war sicher auch nicht ein einziger Stein des Fundaments geblieben, die letzten Balken waren schon längst Staub geworden – und der Felsrücken stand trotzdem da, unverändert, als hätte er auf diese Begegnung gewartet. Hatte mich eine unklare, unbewußte Erinnerung in der Nacht gerade hierhergeführt?
    Der Schock des Wiedererkennens

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