Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Weihnachten 1968 hatte der achtzehnjährige Pete Sex mit seinem Cousin bei einem Waldspaziergang, wie es in seinem Tagebuch verharmlosend heißt. Johnny weigerte sich später, sich in Petes Gegenwart zu dem Vorfall zu bekennen, und die beiden wechselten nie wieder ein Wort miteinander. Nur bei dem Begräbnis von Petes Onkel Tom forderte Johnny ihn auf, ihm aus den Augen zu gehen.
Mein Verdacht im Hinblick auf Pete und Johnny wurde bestätigt, nachdem Letzterer an einer Geschlechtskrankheit gestorben war. Nach Angaben von Freunden hatte sich Johnny Ende der Achtzigerjahre bei einer sexuellen Begegnung auf einem Luftwaffenstützpunkt angesteckt. Er machte Pete dafür verantwortlich, eine homoerotische Neigung in ihm geweckt zu haben, die in seiner Militärzeit wieder aufgeflammt war, und gab ihm auch die Schuld an seiner tödlichen Erkrankung. Offenbar erfuhr Pete um das Jahr 1991 herum in einem Brief davon.
Ob er diese Verantwortung übernommen hat oder nicht, ein Todesfall lastete mit Sicherheit auf Petes überaktivem Gewissen: der von Webster Bruce. Pete beschreibt die Ereignisse in seinem Manuskript, doch einmal mehr lenkt er von der Wahrheit ab. Er hatte zwar einen Streit mit Webster, der diesen vielleicht in den Selbstmord trieb, aber eine wesentliche Ursache für diese Auseinandersetzung war sicher die (von beiden Seiten wahrscheinlich nie offen eingeräumte) quasisexuelle Beziehung, die zwischen ihnen entstanden war. In Petes inzwischen verwirrtem Verständnis von verwandtschaftlicher und romantischer Nähe verkehrte sich die väterliche Verbindung zu Webster in eine sexuelle. Entweder lehnte Webster das entschieden ab, und Pete redete ihm Schuldgefühle ein; oder Webster willigte ein, und Pete wies ihn aus plötzlichem Entsetzen über sich selbst ab. Wie es auch dazu kam, jedenfalls sah sich Pete als wesentliche Ursache für den Selbstmord des schizophrenen Sprinters. Pete merkt selbst an, dass eindeutige Schuldzuweisungen unter so extremen Umständen unmöglich sind; aber, so schreibt er: »Das war auch nicht nötig, ich wusste Bescheid.«
Und genau das war Petes größtes Problem, wie er selbst andeutete, ohne wohl die gesamte Tragweite seiner Worte zu erfassen: Wissen. Das Wissen um seine wahre Herkunft untergrub alles, woran er sich klammerte; das Wissen um sein wahres Wesen war etwas, vor dem er zurückschreckte, und als er ihm nicht mehr entrinnen konnte, setzte er seinem Leben ein Ende.
Aber wie schon erwähnt, möchte ich hier nicht den moralischen Zeigefinger erheben und Petes Ansehen noch weiteren Schaden zufügen. Auch wenn es paradox klingen mag, ich gebe dieses Manuskript mit der gleichen Absicht heraus, die Pete dazu bewogen hat, die Stichpunkte von Nicholas Hirst zu veröffentlichen: um seine Ehre wiederherzustellen. Ich hoffe, dass man Pete bei einer feinfühligen Würdigung der Faktoren, die seine Worte und Taten bestimmten, nicht als Versager sehen wird – wie er selbst am Ende – und auch nicht als »psychisch verwirrtes Wrack«, das sich selbst vernichtet hat, sondern als Opfer. Ein Opfer wovon, lässt sich wohl kaum sagen. Schließlich gibt es für nichts nur einen Grund.
New York, im Januar 2001
a) Wie so oft in derartigen Fällen bot die Verehrung eines Idols die Folie für den Hass auf das eigene Ich. In Petes gesamtem Manuskript belegen die übertrieben schmeichelhaften Hinweise auf mich ein obsessives Minderwertigkeitsgefühl, das er – trotz der unbeschwerten Erwähnung gleich zu Beginn des Textes – nie richtig auflösen konnte und das den größten Teil seines Lebens bestimmte. Freuds Behauptung, dass jeder Selbstmord die Sublimierung des Wunsches ist, einen »anderen« zu töten, wurde an anderer Stelle erschöpfend diskutiert; ich möchte hier nur anmerken, dass Neofreudianer die Äußerung seines Onkels Tom, dass Pete mich »umbringen« muss (im Tagebucheintrag von 1963), als unheilvolle Prophezeiung sehen könnten.
b) Einen Eindruck davon kann man in seinem ursprünglichen Tagebuch gewinnen, das mehrere abfällige Bemerkungen über seine Cousinen Jemima und Rose enthält, die auf deren Bitte hin weggelassen wurden. Die fehlende Wärme seiner Mutter bietet sicher eine naheliegende Erklärung für das tiefe Misstrauen gegen Frauen, die seine Affinität zu Männern begleitete. Petes Erinnerung daran, dass er sich vom Bild seiner Mutter im Bad bedroht fühlte, und die Bedeutung, die er damit verbindet, lassen auf ein pathologisches und spezifisch sexuelles Unbehagen
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