Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
könnte mein Vater sein.«
»Ich glaube, er nimmt gerade ein Bad«, bemerkte er.
»Ist es vielleicht möglich, ihn zu besuchen?«, platzte ich heraus.
Ich weiß, das alles klingt absurd, fast schon wie eine Selbstparodie: der Seelenklempner auf der Suche nach dem Ursprung seiner Persönlichkeit, der Amateurdetektiv, der seine eigene Vergangenheit freilegen will. Doch zu einer objektiven Analyse meines Handelns bin ich schon lange nicht mehr fähig, oder ich finde zumindest, dass es sich nicht mehr lohnt. Ich wollte, worum mich meine Patienten in letzter Zeit immer bitten: einen Abschluss. Abschluss ist das neue Leugnen. Früher wollten die Menschen die Tür vor allen beunruhigenden Gedanken verschließen, jetzt wollen sie sie hereinbitten und sie so lange mit Fragen bearbeiten, bis sie vor Erschöpfung eingehen (wobei sich »sie« je nach Erfolg des Vorgehens entweder auf die Gedanken oder die Betroffenen beziehen kann).
Immerhin hatte ich einen guten Grund, im Schutt meiner Familiengeschichte herumzustochern: Der Gewinn aus einer Begegnung mit meinem echten Vater war, obwohl spekulativ, zu hoch, um ignoriert zu werden. Es mochte albern sein, diesem Traum nachzujagen, doch es wäre noch viel alberner gewesen, die eine Sache nicht weiterzuverfolgen, die mir vielleicht meinen Seelenfrieden zurückgeben konnte. Also flog ich letzte Woche nach England.
Unterwegs überlegte ich, was ich erwartete und was mich zufriedenstellen würde. Richard Hirst konnte es nicht mit meinem Ersatzvater aufnehmen, der seine Sache so herausragend gut gemacht hat, und das musste er auch gar nicht. Er musste mich nicht umarmen, nicht einmal berühren. Ein einziger Satz würde mir genügen, einige Worte, um zu bestätigen, dass dies der Mann war, über den ich in den letzten zwanzig Jahren so viel nachgedacht habe: in seiner Rolle als Schurke in einer Kleinstadt-Horrorgeschichte und dann mit Verspätung als Liebhaber meiner Mutter, der zur Hälfte für meine Existenz verantwortlich ist. Ich wollte lediglich von ihm hören, dass ich sein Sohn bin, selbst wenn es ihn entsetzte und er mich anschrie, ihm aus den Augen zu gehen. Mein Ziel war es, zu erleben, wie das letzte Mosaiksteinchen meines Lebens einrastet, selbst wenn sich das Gesamtbild dadurch kaum änderte und weder schöner noch stimmiger wurde. Für jemanden, der in seinem Leben schon häufig solche Puzzles zusammengefügt hat, war das wohl ein natürlicher Wunsch. In einem Pub fragte ich nach dem Weg zum Heim Glens und bekam sofort eine Antwort. Aus Höflichkeit bestellte ich einen Drink, brachte aber keinen Schluck hinunter. Ich hastete auf die Toilette und versuchte in einer Kabine, meine schwitzenden Hände und zerfließenden Eingeweide zur Ordnung zu rufen und mich wie ein Mensch zu benehmen, der mit der Wahrheit über seine Vergangenheit umgehen kann. ES IST NIE ZU SPÄT! stand auf einem gelben Aufkleber an der Innenseite der Tür, der die Leute aufforderte, das Rauchen aufzugeben und den Tod noch ein wenig länger abzuwehren. Die Worte brannten sich mir ein.
Das Heim war sauber, aber kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Alles wirkte freundlich, unbedrohlich, und im Empfangsbereich brannte noch Licht. Verängstigt und aufgewühlt wankte ich durch die Tür, vielleicht die nervöseste Person, die dieses Institut professioneller Beruhigung je betreten hatte. Ein Mann mit schütterem Haar bot mir seine Hilfe an, und ich erklärte mein Anliegen. Er führte mich durch ein Gewirr breiter, sanft erleuchteter Gänge mit knarrenden Möbeln und Landschaftsbildern von Amateuren und dem muffigen Geruch des Alters in jedem Winkel. In einem Schlafsaal durfte ich fünfzehn Minuten mit dem betagten Herrn reden, der auf dem Bett gleich bei der Tür hockte. Das war Mr. Horst oder Hirst.
Ich brauchte zwei von den fünfzehn Minuten, um mich zu setzen, die hingestreckte schlaffe Hand zu schütteln und mich vorzustellen. Stotternd erklärte ich die mögliche Verbindung zwischen uns. Mr. Horst, der große, fragende Augen von äußerst hellem Blau hatte – die gleiche Farbe wie meine, aber gebleicht von der wässrigen Patina des Alters –, nickte hin und wieder ganz leicht, was ich als Interesse deutete. Als ich einige Details nannte – Cambridgeshire … Witching … 1949 –, blieb sein Gesicht jedoch völlig reglos. Es hatte den Ausdruck eines freundlichen Großvaters, der sich eine unglaubliche Schulgeschichte anhört. Das war zwar ein Stück weit ermutigend, denn immerhin fühlte er
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