Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

früher die Abende mit Dad, die inzwischen in meinem Gedächtnis vergilben.
    Christy Aloisi, Richards wunderschöne Frau, findet trotz ihres Modemagazin-Imperiums die Zeit, uns mit nachsichtigen Worten Kakao und Kekse zu servieren, als wären wir eine im Speicher tagende Geheimgesellschaft. Vielleicht benutzt sie mich ja zum Üben, denn schon bald könnte es junge Aloisis geben, die in den oberen Räumen die geistige Elite ihrer Schulen empfangen. Der erste hat sich für Anfang nächsten Jahres angekündigt. »Dann bist du Onkel Pete«, bemerkt Richard manchmal in sentimentalen Momenten. Aber da werde ich natürlich schon nicht mehr hier sein. Um ein Kind großzuziehen, sind nur zwei Menschen nötig, manchmal reicht auch einer. Die beiden werden bestimmt klarkommen.
    Bald ist wieder Weihnachten, und Richard hat mich eingeladen, das Fest mit ihm und seiner immer geduldigen Frau zu verbringen, so wie letztes Jahr, aber ich möchte ihnen nicht mehr länger im Weg sein.
    Jetzt, da die Geschichte zum größten Teil niedergeschrieben ist, ergibt sie wenigstens eine Art Sinn, auch wenn sie nicht unbedingt herzerwärmend ist:
    Ein Typ
macht seinen Abschluss an einer durchschnittlichen Uni;
müht sich im Schatten eines begabteren Freundes ab;
erzielt kleinere Erfolge, die von Misserfolgen zunichtegemacht werden;
versucht auf seine eigene bescheidene Art, die Welt zu ändern, die aber immer wieder in ihre ursprüngliche Form zurückspringt wie ein Gummiball, den er mit den Fingern zusammengepresst hat; und
erfährt, wie ihn seine persönliche Geschichte verhöhnt, sobald er ihr nahe kommt.
    Trotzdem ist es mein Leben, und ich kann mich nicht davon lossagen. Ich weiß nicht, was der entscheidende Schlag war, die Szene, bei der die Zuschauer bedeutsame Blicke wechseln und Studenten ihre Texte unterstreichen. Als ich herausfand, dass Dad gar nicht mein Vater und ich nur das zufällige Ergebnis eines bedeutungslosen Ficks war, der einen Mann in den Selbstmord trieb? Als ich endlich den »echten« Dad aufspürte und feststellte, dass sich sein Gehirn in Brei aufgelöst hatte? Oder als ich mich mit all diesen Fakten hinsetzte und erkannte, dass ich zwangsläufig zu einem psychisch verwirrten Wrack geworden bin und dass ich nach jahrelangem verächtlichem Abtun von Tragödien und Flüchen genau in die Art von Falle getappt bin – teils Schicksal, teils Herkunft, teils eigene Fehler –, deren Existenz ich stets geleugnet hatte?
    Es hat keinen Sinn mehr, jetzt noch Haare zu spalten und den genauen Moment des Zusammenbruchs ausmachen zu wollen. Die Stichpunkte haben sich alle zu einem vorhersehbaren Ende zusammengefügt, oder, wie normale Menschen sagen, eins führte zum anderen. Vielleicht ist auch alles nur wahllos passiert. Vielleicht ist das ganze Konzept mit den Stichpunkten genauso irreführend wie eine gerade Linie, die die Strecke eines Flugzeugs nachzeichnen soll. Darüber können sich jetzt andere den Kopf zerbrechen. Ich muss nichts mehr erklären. Ich habe einen Psychiater.
    PK

Anhang
    von Dr. Richard Aloisi
    Kristal, Peter
gezeugt 1949
Vater, Richard Hirst, verschwindet
Mutter trifft und heiratet Robert Kristal
Aversion der Mutter gegen Baby; auch später nie ganz abgelegt
PK ein einsames, fleißiges Kind
entwickelt zeitlebens Skepsis/Verlegenheit gegenüber Frauen durch schwierigen Kontakt mit:
Mutter
Cousinen
Schulrektorin
Klassenkameradin Jennifer O’Hara
trifft Richard Aloisi; Freundschaft entsteht
fühlt sich Aloisi unterlegen; Komplex verstärkt durch:
Aloisis besseres Abschneiden bei Prüfungen
Aloisis Fähigkeiten in Musik und Sport
Fortschritt von Aloisis Karriere
mögliche homoerotische Gefühle für Aloisi
Einfluss des Lehrers Leonard Paulson entfacht:
Interesse an Psychologie
Angst vor Misserfolgen
Homophobie, die in Ekel gegen eigene sexuelle Neigung umschlägt
erste homoerotische Erfahrung
kurzes sexuelles Experiment mit Cousin Johnny; Versuch, mit Johnny über Vorfall zu sprechen, abgeblockt; schwört sich, es nie wieder zu erwähnen
1968–72 Studium in Michigan; hält Kontakt zu Aloisi in Harvard
tritt Stelle als Autor beim Michigan Psychiatric Journal an
recherchiert Fall Hirst
beginnendes Interesse an Lebensläufen in Stichpunkten
geht in der Arbeit auf; wachsende Überzeugung, dass Psychologie menschliches Verhalten vorhersagen und erklären kann
1980: bekommt Stelle am Lakelands Institute, Chicago
begründet guten Ruf; bringt es zu einem gewissen Ruhm
Schwierigkeiten mit körperlichem Kontakt;