Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
schauen, da meine emotionale Instabilität allen peinlich war.
Nach der Landung verzichtete die Stewardess darauf, mir einen schönen Tag zu wünschen. Sie hatte wohl erkannt, dass das reine Zeitverschwendung gewesen wäre.
Selbst als ich mich an das Weinen gewöhnte, als ich Zusammenbrüche ohne jede Vorwarnung akzeptieren und den plötzlichen Ansturm der Verzweiflung mitten in Seinfeld oder in der Dusche begrüßen konnte, selbst in dem Wissen, dass ich »Trauerarbeit« leistete, wie es sich bei einer posttraumatischen Depression gehörte, konnte ich mich dieser nicht überlassen, ohne immer wieder im Sumpf von Ursache und Wirkung zu wühlen. Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, Mums und Dads Vergangenheit richtig zu ergründen, hätte ich den Verlust eines Beschützers nicht so stark empfunden und meinerseits nicht das Bedürfnis zu schützen entwickelt, durch das mir Webster nahegekommen war. Wenn ich meinen Richard-Komplex rational durchleuchtet hätte, hätte ich meine eifersüchtige Wut und meinen giftigen Stolz besser steuern können und Webster nicht so angebrüllt, bloß weil er mich vor Richard bloßgestellt hatte. Wenn ich nicht so darauf aus gewesen wäre, durch die Verbindung mit einem zukünftigen Olympiateilnehmer meinen Ruf zu fördern, hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht antreten lassen. Ich hätte ihn in sichere Obhut gegeben und ihm erklärt, dass er in den kommenden Jahren noch viele erfolgreiche Rennen laufen konnte, sobald er Streissman und alles andere abgeschüttelt hatte. Wenn ich die Abläufe zurückverfolgte ab dem Moment, in dem Webster abgedrückt hatte, bis zu meinen Begegnungen mit ihm und noch weiter in die Vergangenheit, die mich zu dem gemacht hatte, was ich war, konnte ich zehn Meilensteine benennen, wo ich anders hätte handeln und jedes einzelne Mal einen Weg hätte beschreiten können, der an dieser Katastrophe vorbeiführte statt mitten in sie hinein; einen Weg, der in weite, offene Felder mündete – sportliche Glanzleistungen für Webster und eine erfüllte Beziehung zwischen ihm und mir –, statt in einem Studentenzimmer jäh abzubrechen.
Das alles war natürlich nur vielleicht so. Beweisen ließ es sich nicht. Meine Patienten gaben sich weiter die Klinke in die Hand. Kollegen drückten mir ihr Beileid aus. Niemand machte mir Vorwürfe. Das war auch nicht nötig, ich wusste Bescheid. Außerdem wusste ich, dass all diese Analysen nicht die geringste Rolle spielten. Meine sämtlichen theoretischen Kenntnisse über Selbstmord hatten nicht gereicht, um diesen einen zu verhindern. Eine Million Stichpunkte waren nicht in der Lage, einen einzigen tödlichen Stich ungeschehen zu machen. Jetzt begriff ich, was Tragik bedeutete. Was zählte, waren nicht die konkreten Einzelheiten, sondern der brutale Ausgang. Die Menschen, die Nicholas Hirsts Tod auf den Fluch einer Hexe zurückführten, hatten letztlich doch mehr Ahnung als ich, weil sie zumindest etwas fühlten – das Grauen vor dem Unausweichlichen, eine Ohnmacht, die ich in meiner Arroganz geleugnet hatte. Denn das ist Tragik: nicht etwas, über das man nachdenkt, bis man es aufschreiben kann wie ein Kochrezept, sondern etwas, das man am ganzen Körper fühlt. Ich hatte nie gelernt, richtig zu fühlen. Und jetzt war es dafür wahrscheinlich zu spät.
20 Dem kanadischen Sprinter Ben Johnson wurde 1988 die olympische Goldmedaille aberkannt, nachdem man ihn der Einnahme leistungsfördernder Substanzen für schuldig befunden hatte. Sein Umfeld verteidigte ihn mit dem Argument, dass schließlich alle betrogen.
21 Angesichts einer fehlenden einheitlichen Neuropathologie der Schizophrenie wird der genaue Einfluss von dopaminergen Neuronen noch immer diskutiert. Zu gegensätzlichen Ansichten über Schizophrenie vgl. Michael J. Turner: Das geteilte Ich (McGill University Press 1980) und Broad: Schizophrenie: Mythos des Gemüts (McGill University Press 1981) – zwei Bücher aus dem gleichen Stall, die sich so radikal unterscheiden, dass sich die Autoren angeblich sogar auf dem Campus eine Prügelei lieferten, die Broad für sich entschied, wenngleich nicht auszuschließen ist, dass der Groll der Studentinnen auf den misogynen Turner die Berichte über die Auseinandersetzung verfälscht hat. Sehr hilfreich ist auch das Kapitel über Schizophrenie in Aloisis Geistesangelegenheiten.
22 Anmerkung des Verlags: Der Markenname des Hauptmedikaments, mit dem Webster Bruce behandelt wurde, wurde aus rechtlichen Gründen
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