Ruf der Dämmerung (German Edition)
Schule!« Sie winkte Ahi.
Viola war hin und her gerissen. Zu gern wäre sie noch bei Ahi geblieben und hätte ihn getröstet oder auch einfach seine Trauer geteilt. Sie spürte das drängende Verlangen, sich an ihn zu schmiegen, seine Seele an sich zu ziehen, um sie den Kelpies und ihrem beschwörenden Gesang zu entwinden. Aber wenn sie nicht bald zurückkam, würde Ainné Fragen stellen. Und auch ihr Vater konnte sie vom Laden aus kommen sehen und sich Gedanken über die Richtung machen. Es war besser, noch ein bisschen Schlammtreten mit Shawna zu betreiben und dann von woanders zurück zum Haus zu laufen.
Also küsste sie Ahi nur leicht auf die Wange und versuchte, all ihr Verständnis und ihre Liebe in diesen Hauch einer Berührung zu legen. Dann folgte sie Shawna in den Regen.
»Seltsam«, meinte Shawna, während sie sich ihren Weg durch Matsch und Platzregen bahnten. »Patrick hat die Musikanlage nie zum Laufen gebracht. Irgendwie kam dafür nie genug Strom an. Und dann auch noch ohne Kabel?«
Viola antwortete nicht. Sie konnte nur hoffen, dass Shawna die Sache bis morgen vergaß. Oder sicherheitshalber die Nacht im Internet verbringen, um ein paar Harfensongs herunterzuladen, zu versuchen, ihre eigene, ziemlich alte Musikanlage mit Batterien zu bestücken und Ahi morgen früh noch dahingehend zu instruieren, dass er Shawna die Sache erklären konnte. Und dabei war sie jetzt schon todmüde …
Das Verschwinden der beiden Touristen war am nächsten Tag natürlich Stadtgespräch in Roundwood. Der Gruppenleiter hatte sie am Abend alarmiert als vermisst gemeldet und der Polizei Dampf gemacht: Wer fastete, war wohl kreislaufschwach und gefährdeter als normal essende Leute. In der Schule wurde dies ausgiebig diskutiert, während Viola mit ihrem eigenen Kreislauf kämpfte. Heute war es sonnig, und sie schob es erfolgreich auf die dauernden Wetterwechsel, dass ihr schwindelig und übel war. Der Blick in Ahis gequältes Gesicht, wenn die Sprache auf die Vermissten kam, trug allerdings auch nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte.
In der Mittagspause sprach sich dann herum, dass man die Leichen gefunden hatte.
»Die Wasserwacht nimmt an, dass mindestens eine von den Typen schwimmen wollte!«, erzählte Bridie, die Tochter des Police Officers. Sie ging zum Mittagessen nach Hause und hatte natürlich die letzten Informationen. »Jedenfalls hatte sie wohl einen Badeanzug an – oder drunter, irgend so was. Und sie hatte auch dem Reiseleiter gesagt, dass sie bei jedem Wetter draußen schwimmt! Überall, sogar in der Nordsee! Er hat sie noch gewarnt, aber das ist wohl nicht angekommen. Na ja, und der andere hat sie vielleicht retten wollen …«
Die Geschichte wurde von niemandem angezweifelt. Wieder ein bedauernswerter Unfall – an dem die Opfer nach allgemeiner Einschätzung selbst nicht ganz unschuldig waren. Die Kelpies sahen das zweifellos genauso. Auch wenn sich der Ablauf für sie anders darstellte. Viola war nun endgültig übel. Sie gab das – ohnehin nur mit Überwindung herunterwürgte – Schinkensandwich auf der Toilette wieder von sich.
Shawna, ebenfalls leicht grün im Gesicht, stellte keine Fragen. Schließlich stand an diesem Nachmittag auch noch ein anderes Ereignis an, das Viola und Shawna seit Langem Bauchschmerzen bereitete. Beide Mädchen waren in der Bio-AG – Shawna aus Interesse und Viola vor allem deshalb, weil es keine Informatik-AG gab. Seit Ahi mit zur Schule ging, hatte er sich den Mädchen angeschlossen. Vielleicht, weil er sich wirklich für Biologie interessierte – aber vielleicht auch, weil ihm das Prinzip der halb freiwilligen Arbeitsgemeinschaften fremd war. Wahrscheinlich hätte er sich in der Englisch- oder Schauspiel-AG besser amüsiert, aber er war Viola einfach gefolgt.
Die Bio-AG beschäftigte sich nun ausführlich mit Anatomie, und die Lehrerin hatte den Ehrgeiz, ihre Schüler optimal auf ein künftiges Studium der Biologie oder auch der Medizin vorzubereiten. »Wer meine Klasse besucht, kann sich die ersten zwei Semester fast schon sparen!«, war ihr Lieblingsspruch, und als Höhepunkt des Jahres betrachtete sie das eigenhändige Sezieren eines Frosches! Die Schüler übten seit Wochen den Umgang mit dem Skalpell und verschiedenen anderen Instrumenten zur Körperöffnung und Präparation der Organe, und bislang hatte dies zumindest Shawna immer Spaß gemacht. Viola befürchtete allerdings stets, sich zu schneiden, und Ahi musste der Sinn von Obduktionen erst mal
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