Ruf der Dämmerung (German Edition)
alten Heimat. An diesem Tag waren sie alle noch glücklich gewesen. Aber schon am nächsten Abend hatte Mom begonnen, sich Sorgen zu machen. Schließlich rief Dad sonst praktisch täglich an, wenn er unterwegs war. Nun aber herrschte Funkstille und sogar sein Handy war ausgeschaltet. Während der ganzen Woche hatten Mom und Viola ihn nur einmal erreicht und da war er seltsam und einsilbig gewesen. Schließlich erhielten sie eine SMS, die verkündete, dass er drei Tage länger wegbleiben würde. Und dann folgte die schockierende Erklärung: Als er endlich wiederkam, hatte Dad noch auf dem Weg vom Flughafen nach Hause von Ainné erzählt, seiner Jugendliebe. Er hatte sie überraschend in Galway wiedergetroffen und nach seinen Angaben hatte es direkt »gefunkt«. Ainné hatte ihn verzaubert – »verhext«, wie Violas Mom es später ausdrückte –, er hatte sich verliebt wie niemals zuvor. Ainné O’Kelley und Alan McNamara, davon war Dad fest überzeugt, waren füreinander bestimmt!
Alan McNamara fand an diesem Abend viele schöne Worte für die einfache Tatsache, dass seine Familie ihm plötzlich im Weg stand. Viola und ihre Mutter sollten das bitte nicht persönlich nehmen, aber es gäbe eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …
Dad schwebte auf Wolken und Violas Hoffnung, er würde vielleicht vor der Scheidung wieder runterkommen, erfüllte sich nicht. Zumal Ainné auch noch schwanger war. Die beiden frisch Verliebten hatten die erste Woche ihres erneuten Zusammentreffens wirklich genutzt.
Violas Flug wurde jetzt aufgerufen und sie ließ sich im Strom der Reisenden – vor allem Erwachsene, Geschäftsreisende und Urlauber, die nicht auf die Ferienzeit angewiesen waren – mittreiben. In Hannover begann am Montag die Schule wieder, in Irland in einer Woche. Viola war gespannt auf die Highschool im ländlichen Roundwood. Sie würde die neunte Klasse besuchen, ein halbes Jahr lang – vielleicht ein ganzes, falls es ihr bei Dad und Ainné gefiel. Ihre Mutter jedenfalls würde ein halbes Jahr in Boston verbringen – am amerikanischen Hauptsitz der großen Computerfirma, für die sie arbeitete. Für sie bedeutete das einen erheblichen Karrieresprung, zumindest finanziell war sie nicht auf ihren Exmann angewiesen. Das war zwar nur ein kleiner Trost, aber es hatte sie nach der Trennung doch wieder aufgerichtet. Wenigstens in der Firma wusste man sie zu schätzen. Hier würde man ihr keine »irische Rose« vor die Nase setzen. Und in gewisser Weise erfüllte es sie bestimmt auch mit Schadenfreude, dem jungen Glück am Lough Dan jetzt erst mal ihre Tochter auf den Hals zu hetzen: Ainné war garantiert nicht erbaut davon, ihre »große Liebe« im Doppelpack mit einem Teenager zu bekommen. Viola lächelte grimmig. Viel Entgegenkommen hatte Dads neue Frau von ihr nicht zu erwarten.
Viola flog erst zum zweiten Mal in ihrem Leben und fand das Drumherum um Start und Landung, Kabinenservice und Duty-free-Einkäufe noch spannend genug, um die Reise als kurzweilig zu empfinden. Außerdem wuchs mit der Entfernung von ihrem alten Leben die Freude darauf, ihren Vater wiederzusehen. Sosehr sie mit Mom über ihn geschimpft hatte – vermisst hatte sie ihn doch. Mit Dad war der Alltag einfach lustiger gewesen. Er nahm das Leben von jeher leicht und hatte es immer geschafft, Viola und ihre Mom aufzuheitern, egal wie viel Ärger es in der Schule oder in Moms Firma gegeben hatte. Seine Arbeit im Reisebüro hatte Alan McNamara Spaß gemacht. Es gab immer etwas zu erzählen über Kunden und ihre Sonderwünsche – Viola lächelte, wenn sie nur daran dachte, und verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die freudlosen Monate nach der Trennung ihrer Eltern.
Als der Flieger schließlich gelandet war, trabte sie aufgeregt die schier endlose Strecke vom Flugzeug bis zur Gepäckausgabe. Ein eintöniger, verglaster Flur folgte hier auf den anderen, zum Teil mit Laufbändern versehen, um schneller vorwärtszukommen. Viola probierte eins aus und fand es lustig. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich vielleicht noch ein bisschen herrichten sollte, bevor sie ihrem Dad gegenübertrat. Viola suchte eine Toilette und überprüfte ihren Anblick im Spiegel. An sich nicht schlecht – nur den vorwitzigen Pickel über ihrem rechten Auge musste sie ein bisschen überschminken. Den verdankte sie bestimmt der Flugzeugluft. Gewöhnlich litt Viola nicht unter Akne. Aber ihre sehr helle Haut – Dads irisches Erbe! – war empfindlich und reagierte schnell
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