Ruf der Dämmerung (German Edition)
vor den Trümmern ihrer Unterrichtseinheit. Die Einzigen, die noch bereit waren, ihren Frosch auseinanderzuschneiden, waren Hank und Howard. Allerdings kaum in der Absicht, irgendetwas zu lernen. Viola entzog ihnen beherzt das Glas mit dem glubschäugigen Versuchsobjekt und folgte den anderen hinaus.
»Shawna, das wird Folgen haben … «, donnerte Miss Rourke ihnen nach.
Shawna seufzte. »Der Hopser kostet mich wohl gerade meine gute Bionote … «, murmelte sie, während sie ihren Frosch vorsichtig die Schultreppe heruntertrug. »Aber was soll’s. Jenny hat recht. Er ist süß.«
Die Schüler waren aufgedreht und voller Freude, als sie die Tiere schließlich in den Schlamm rund um einen Tümpel setzten, in dem vorher auch Ahi seiner Kleinen Seele die Freiheit wiedergegeben hatte. Er selbst war inzwischen verschwunden, obwohl die Klasse bereit schien, ihn zu feiern. Viola hoffte, dass das seltene Gemeinschafts- und Hochgefühl, das plötzlich alle zu verbinden schien, auf den erfolgreichen Aufstand gegen die Lehrerin zurückging und nicht auf eine kollektive Seelenverschmelzung mit ein paar glücklichen Amphibien … Aber das war wohl wirklich Blödsinn! Wahrscheinlich waren die anderen Schüler einfach nur erleichtert darüber, ihren Frosch nicht töten und sezieren zu müssen. Jenny war darüber so aufgedreht, dass sie ihr verhindertes Versuchsobjekt sogar zum Abschied küsste.
»Na, zumindest hättest du nicht aus Versehen einen Prinzen seziert«, kommentierte Moira, als der Hopser daraufhin floh, statt sich zu verwandeln.
Die Mädchen schauten ihren zufriedenen Versuchsobjekten aufatmend nach und gestanden einander, dass sie sich seit Wochen davor gefürchtet hatten, die Tiere abzuschlachten.
»Aber dein Ali traut sich was!«, bemerkte Moira bewundernd zu Viola. Die nickte, obwohl ihr Herz schwer war. Ahi war weit davon entfernt, normal zu sein.
Die geplatzte Bio-AG bescherte der Klasse fast zwei freie Stunden, bevor der Schulbus sie abholte. Shawna und die meisten anderen Mädchen verbrachten sie im Café, aber Viola fand keine Ruhe. Sie fragte sich voller Sorge, wo Ahi steckte. Also machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Hause und hoffte, irgendeine Mitfahrgelegenheit zu finden. Tatsächlich hielt ein Farmer an, der nur eine Meile vom See entfernt wohnte. Er wäre sogar bereit gewesen, sie rasch heimzufahren, aber Viola mochte ihm den Umstand nicht zumuten. Außerdem würde Ainné Fragen stellen. So dankte sie ihm, als er sie an seinem Hof herausließ, und lief den Rest des Weges zu Fuß. Wobei ihr ein Horrorszenario nach dem anderen durch den Kopf ging. Die Menschen hatten Ahi heute zweifellos enttäuscht. Was, wenn er zu den Kelpies zurückgegangen war und sich in diesem Moment mit Lahia über das seltsame Verhalten ihrer Jagdziele austauschte? Bei einem gehörigen Schluck bacha?
Am Ende rannte Viola fast und fand ihre Befürchtungen auch gleich bestätigt. Ahi lag nicht wie sonst im Wohnwagen auf dem Bett und er wartete auch nicht auf den Steinen hinter dem Bootshaus. Schließlich wanderte sie ziellos am See entlang und fand ihn dann endlich auf der Brücke zur Insel. Er hockte auf einem der baufälligen Brückenbögen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Er trug Jeans und Holzfällerhemd, aber keine Schuhe.
Viola fühlte sich schwach vor Erleichterung. »Ahi, da bist du ja!« Sie hatte nur noch den Wunsch, ihn zu umarmen, aber sein schwankender, erhöhter Sitz machte das unmöglich. Die Kletterpartie wäre zu gefährlich.
»Warum kommst du nicht herunter? Ich hab dich gesucht!«
Ahi hob langsam den Kopf. Er hatte bisher starr ins Wasser geblickt, aber jetzt schien er Viola endlich zu bemerken. Seine Augen waren von einem tiefen dunklen Blau wie der See in hellen Nächten. Und in ihnen stand Verwirrung und Trauer.
»Ich verstehe euch nicht!«, brach es dann aus ihm heraus. »Ich liebe dich, Viola, aber dein Volk verstehe ich nicht! Ihr nennt uns Ungeheuer, weil wir manchmal, alle paar … Wochen …« – Ahi fiel es nach wie vor schwer, Zeitabläufe zu benennen – »jagen. Aber ihr selbst findet es völlig normal, jedes Jahr Tausende Kleine Seelen zu töten. Einfach nur so, damit sich auch ein Dummkopf wie Hank mal wie ein Chirurg fühlen kann – oder damit er mit eigenen Augen sieht, was er auch überall nachlesen könnte. Ich kann verstehen, dass ihr Tiere tötet, um sie zu essen. Aber das …«
Viola zuckte die Achseln. »Uns hat’s auch nicht
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