Ruf der Daemmerung
... Danke, dass du mich angehört hast ...«
Ali hob die Hand zu einem schwachen Gruß und Viola empfand ein fast überwältigendes Bedürfnis, ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Sie machte sogar einen Schritt auf ihn zu, aber dann hielt irgendetwas sie zurück. Ein eigener Instinkt oder der plötzliche Schrecken in seinen Augen, seine abwehrende Handbewegung, sein Zurückweichen?
»Ali ...!« Sie rief ihm nach, aber er zog sich unwiderruflich zurück. Dabei ging er zunächst rückwärts, als wollte er ängstlich vermeiden, dass sie vielleicht eine Hand auf seine Schulter legte. Erst als der Abstand zwischen ihnen groß genug war, wandte er sich um - und schien wieder mit dem Schilf am Ufer und dem Nebel zu verschmelzen.
Viola war überzeugt, dass sie sich den Hufschlag im Wasser nur einbildete. Und sicher gab es auch eine ganz natürliche Erklärung dafür, dass der See daraufhin leichte Wellen schlug.
Ende Oktober besserte sich das Wetter in Wicklow, und es gab tatsächlich wieder vereinzelte Besucher auf dem Campingplatz. Dabei hatte Violas Dad schon gefragt, ob es nicht Zeit wäre, den Platz zu schließen, aber Ainné und Bill hatten davon nichts hören wollen. Zelturlauber gab es auch wirklich nicht mehr, aber kurz vor den Herbstferien standen zwei Wohnmobile und ein Wohnwagen am See. Besonders eine englische Familie erwies sich dabei als äußerst sportlich, und Bill frohlockte, als die Frau und eine der Töchter regelmäßig Pferde mieteten. Shawna war darüber weniger begeistert.
»Normalerweise begleiten wir die Leute«, meinte sie. »Aber diese Typen wollen unbedingt vormittags reiten, wenn ich in der Schule bin, und sie können es ja auch einigermaßen. Also lässt Bill sie allein losziehen. Unmöglich!«
»Nachmittags gehen sie Kanu fahren«, erklärte Viola. »Mein Dad war gar nicht angetan, dass er die Boote wieder aus dem Winterschlaf holen musste. Aber die Typen sind total sportfixiert. Sie schwimmen sogar! Jetzt, im Oktober! Kannst du dir das vorstellen?«
Shawna kicherte. »Du, wir hatten schon Leute, die haben sich Weihnachten in den See gestürzt. Wenn du lange genug im Tourismusgeschäft bist, wundert dich nichts mehr. Ich mache jedenfalls was anderes, wenn ich mit der Schule fertig bin. Ich studiere Tiermedizin ... in Dublin ...« Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Sollen wir jetzt mal Englisch machen?«, wechselte sie schließlich das Thema. »Du meinst, im Internet stünden tatsächlich alle möglichen Aufsätze über Macbeth? Wir brauchten sie nicht selber zu schreiben?«
Viola lachte. »Shawna, du musst den Schinken nicht mal lesen. Ich lade uns den Film runter, das geht schneller. Was sollten wir jetzt noch mal genau machen?«
Shawna suchte ihr Hausaufgabenheft. »Wir müssen auch schnell fertig werden«, bemerkte sie. »Ich will nicht zu lange bleiben. Laut Wetterbericht gibt's einen Sturm, irgendwelche Ausläufer von so einem Hurrikan. Und bei Gegenwind den Berg raufrattern ... da versagt mein Moped jedes Mal.«
Tatsächlich kam gegen Abend heftiger Wind auf und zum ersten Mal seit Viola in Irland war, schlug der See regelrechte Wellen. In Violas kleinem Zimmer prasselte der Regen gegen die Schrägfenster. Zuerst erwischte es die Internetverbindung und dann fiel auch noch der Strom aus. Im Wohnzimmer brannte allerdings der Kamin und ihr Vater zündete Kerzen an. Hätte Ainné nicht schon wieder vorwurfsvoll geguckt und über alles Mögliche von steigenden Preisen bis zu unzuverlässigen Leitungen lamentiert, hätte Viola es direkt gemütlich gefunden.
Aber dann klopfte jemand an die Tür und es klang dringlich. Viola wusste nicht, warum ihr sofort Alis Name durch den Kopf schoss - aber andererseits verbrachte sie sowieso kaum eine Stunde, ohne an den Jungen und sein sonderbares Verhalten zu denken. Aber nun dieser Sturm - wo mochte Ali sein? Wo konnte er Unterschlupf finden und wie dieser Familie entkommen, die ihn anscheinend mit irgendetwas unter Druck setzte? Im Verhältnis zu dem, was Ali über seinen Anhang andeutete, konnte man Ainné und Bill fast lieb gewinnen.
Aber natürlich war es nicht Violas sonderbarer Freund, der sich jetzt im Sturm gegen die Tür warf und fast in den Flur fiel, als ihr Vater öffnete. Stattdessen stolperte einer der Camper - trotz Regenmantel total durchnässt - über die Schwelle.
»Alan, es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber irgendetwas stimmt nicht ...« Der Mann wirkte völlig verstört und winkte sofort
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