Ruf Der Tiefe
beiden gerahmten Fotografien an den Wänden. Die eine zeigte eine Art Erdbeere mit Fangarmen am spitzen Ende, die andere das Pokemon Pikachu, beide auf schwarzem Hintergrund. Carima beugte sich näher, um die Bildunterschriften lesen zu können. Unter der Erdbeere stand Schmuck-Kalmar , unter dem Pokemon Dumbo-Tintenfisch . Dumbo – war das nicht dieser fliegende Elefant von Disney? Versuchte hier jemand, die Besucher der Station zu veralbern?
Ihre Mutter packte doch jetzt allen Ernstes ihren Waschbeutel aus und kramte in ihren Schminksachen. Womöglich wollte sie jetzt erst mal eine warme Dusche nehmen oder so was. Wenn sie nicht in einer Küche stand, war sie manchmal unglaublich langsam und umständlich.
»Räum doch mal deine Sachen in den Schrank«, sagte sie jetzt auch noch und Carima starrte sie an. Einräumen? Sie würden gerade mal eine Nacht bleiben und ihr gesamtes Gepäck bestand aus einem Rucksack pro Person! Sie verzichtete auf eine Antwort und sagte stattdessen: »Ich sehe mich mal ein bisschen um.« Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, war Carima schon durch die Tür geschlüpft und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang. Kaum war ihre Mutter außer Sicht, fühlte Carima sich befreit. Als sei eine Schicht aus Blei von ihrer Seele abgebröckelt.
Sie folgte dem Gang, der halbkreisförmig an der Außenseite der Station entlang verlief, und kam noch einmal an den Laboren vorbei, dann an einem Trakt mit der Aufschrift Medical Center H/A . Wieder ein langer Flur mit vielen Türen. Eine davon stand halb offen, und Carima sah eine asiatisch aussehende Frau, die gerade damit beschäftigt war, dem schlaksigen jungen Taucher von vorhin Blut abzunehmen. Im Profil wirkte sein Gesicht scharf geschnitten, das ließ ihn irgendwie erwachsen aussehen.
Ein drahtiger grauhaariger Mann sprach mit dem Jungen, und Carima hörte, dass seine Stimme beunruhigt klang. Auch der Junge wirkte ernst, fast grimmig. Carima spitzte die Ohren, verstand aber leider nichts, die beiden unterhielten sich zu leise.
Die Ärztin und der Grauhaarige hatten anscheinend Carimas Schritte nicht gehört – diese dünnen, weichen Stationsschuhe hatten echte Vorteile –, doch der Junge schien aus dem Augenwinkel etwas gesehen zu haben. Er wandte den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Grüne Augen hatte er, das war ihr schon im Tauchboot aufgefallen. Auf den zweiten Blick sah der Freak eigentlich ganz interessant aus. Es war schwer, seinen Blick zu deuten, und Carima wusste nicht einmal, ob er sie erkannt hatte.
Verlegen und mit klopfendem Herzen stahl sie sich davon. Ein paar Meter weiter kam ein Schott mit der Aufschrift To Main Lock – aha, hier ging es zur Hauptschleuse. Carima schlüpfte hindurch. Einen Moment lang lehnte sie sich gegen eine Wand, während ihr Herzschlag sich wieder beruhigte, und sah sich einfach nur um. Hey, das sah spannend aus hier. Überall Regale mit Tauchausrüstung, zwei Unterwasserroboter von der Größe einer Einfamilienhaus-Mülltonne und mehrere Tiefsee-Tauchanzüge aus Metall, mit einer gewölbten Sichtscheibe am Kopfteil und Greifzangen dort, wo bei einem Menschen die Hände saßen. Eine Art knallgelbe Ritterrüstung.
Und da war auch die große Schleuse, durch die kam man aus der Station heraus. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Carima das Mädchen im Overall. Es hatte hellbraune Haare, die es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, und eine sportliche, fast jungenhafte Figur. Es starrte aus einem Bullauge, klebte förmlich daran, und machte schnelle Gesten mit beiden Händen. Zeichensprache. Unterhielt sie sich etwa mit einem anderen Taucher dort draußen? Vorsichtig, um sie nicht zu stören, ging Carima näher heran – und hielt den Atem an. Im Wasser schwebte ein Auge, etwa doppelt so groß wie das eines Menschen. Noch eine Krake? Nein, denn gleich darauf war das Auge verschwunden und ein faltiger, grauer Körper glitt vorbei, dann sah sie eine riesige Schwanzflosse auf und ab schlagen. Oh mein Gott, das war ein Wal! Das Mädchen hatte sich gerade mit einem Wal unterhalten! Anscheinend mit einem Pottwal, so einen hatte Carima schon mal im Ozeaneum Stralsund gesehen, allerdings nur als lebensgroßes Modell.
Was für eine seltsame Welt das hier unten war. Und wer war das Mädchen? Noch eine von denen, die beim Tauchen Flüssigkeit atmeten? Jedenfalls war sie jung, Carima schätzte sie auf etwa siebzehn.
Das Mädchen hatte sie jetzt ebenfalls bemerkt. Sie lehnte sich gegen einen der
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