Ruf Der Tiefe
Riemenfische! Sie wirkten wie silberne Riesenschlangen, und in den letzten Jahrhunderten waren sie von Seefahrern oft genug für solche gehalten worden, da sie bis zu elf Meter lang werden konnten. Doch trotz ihrer Größe waren Riemenfische harmlos und verbrachten ihr Leben normalerweise als Einzelgänger in großer Tiefe. Was hatten sie gemeinsam im Flachwasser zu suchen?
Leon musste an das kleine Mädchen denken, das beinahe ertrunken war – ob es jemals wieder den Mut haben würde, ins Wasser zu gehen?
»Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang mit dem gefährlichen Zwischenfall, den Leon Redway gerade erst überlebt hat«, fuhr Kovaleinen fort, und Leon zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Verblüfft wandten sich die anderen Jugendlichen ihm zu. »Du hast uns nichts davon erzählt!«, zischte Billie vorwurfsvoll.
»Wann denn?«, schoss Leon leise zurück. »Ich bin doch erst vor einer halben Stunde zurückgekommen.«
Kovaleinen gab eine kurze Zusammenfassung dessen, was in der Nähe des Kohala Canyon geschehen war, und Louie Clément ergänzte, dass es sich – bis auf das klemmende Ventil des Notvorrats – anscheinend nicht um eine Fehlfunktion der OxySkin gehandelt habe. Vor Aufregung war seine Stimme ganz hoch geworden und er tat Leon leid. Obwohl Louie der Meinung war, es sei unverantwortlich, Jugendlichen Tauchanzüge im Wert von 100 000 Dollar pro Stück anzuvertrauen, war er im Grunde seines Herzens ein netter Kerl.
»Die Ursache für diese seltsamen Zwischenfälle liegt also anscheinend in der Tiefsee selbst«, schloss Kovaleinen. »Greta, Urs und Paula, bitte schickt möglichst viele unserer Gleiter zu dem Ort, an dem Leon die Probleme gemeldet hat. Sie werden das Wasser analysieren – vielleicht finden wir dadurch schon eine mögliche Ursache.«
»Geht klar«, sagte Paula und drehte sich ihren blonden Zopf, in dem erste graue Haare zu sehen waren, um den Finger. Auch Urs, der Geologe mit dem Schweizer Akzent, und die Biologin nickten.
Die Gleiter auszuschicken hielt Leon für eine gute Idee. Diese Maschinen, die aus dem deutschen Meeresforschungsinstitut IFM-GEOMAR stammten, waren etwa einen Meter lang und sahen aus wie gelbe Modellflugzeuge, komplett mit Tragflächen. Sie konnten selbstständig und sogar gemeinsam im Schwarm den Ozean erkunden und auch in großer Tiefe Daten sammeln. Dabei verbrauchten sie nur so viel Energie wie ein Fahrradlicht.
»Bis dahin gilt für alle unsere Besatzungsmitglieder, die Flüssigkeit atmen, ein striktes Tauchverbot«, beendete Kovaleinen seine kleine Rede. »Ich muss nicht noch mal betonen, dass die Tiefsee noch immer weitgehend unerforscht ist, und ich möchte weitere ungute Überraschungen gerne vermeiden.«
Striktes Tauchverbot. Die Worte echoten durch Leons Kopf und im ersten Moment bekam er vor Entsetzen kein Wort heraus.
»Keine Tauchgänge mehr? Aber was ist mit unseren Partnern?«, rief Julian. »Sie erwarten, dass wir zu ihnen nach draußen kommen!«
»Ihr müsst sie so gut wie möglich von hier drinnen aus betreuen. Oder ihr geht mit den Panzertauchanzügen raus.«
Julian murmelte einen Fluch. »Na, ich weiß ja nicht, ob Carag das gut findet, wenn ich ihn als summendes gelbes Metallmännchen besuche. Hoffentlich haut er mir nicht ab. Er ist nun mal dumm wie Brot im Vergleich zu Lucy und Shola.«
»Ach, ich würde mir nicht so viele Sorgen machen«, mischte sich Tom ein, der mit dreizehn Jahren der Jüngste von ihnen war. Und zu seinem Ärger ließ ihn seine Stupsnase sogar noch jünger aussehen. »Carag ist doch viel zu faul, um selbst zu jagen. Solange er von dir Futter bekommt, wird er bei der Station bleiben.«
Inzwischen hatten die Wissenschaftler begonnen, untereinander über die Vorfälle und mögliche Ursachen zu diskutieren.
»Was ist mit diesem seltsamen Sonar-Echo, das wir ungefähr um die Zeit von Leons Unfall bemerkt haben?«, fragte Greta Halvorsen. »Habt ihr es inzwischen identifizieren können?«
Leon horchte auf. Was für ein Sonar-Echo? Er hörte zum ersten Mal davon.
Julian lehnte sich zu Carima hinüber und erklärte ihr wahrscheinlich, dass man mit Sonar- und Echolotgerät den Meeresboden und Objekte im Wasser sichtbar machen konnte – das Ganze funktionierte mithilfe von Schallwellen, die ein spezielles Gerät ins Meer hinausschickte. An Bord wurden die zurückkehrenden Echos dann zu einem Bild zusammengesetzt. Nach diesem Prinzip orientierten sich auch Fledermäuse in stockdunklen Höhlen sowie Delfine
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