Ruf Der Tiefe
hatten. Durften Fremde überhaupt an einer Bordversammlung teilnehmen? Wenn nicht, dann würde sie gleich jemand höflich bitten, in ihrem Quartier zu warten.
Staunend blickte das Mädchen sich in der Messe um, und instinktiv schaute Leon selbst nach oben, zu der großen Plexiglaskuppel, die sich keine drei Meter über den Stühlen und Tischen wölbte und einen Blick in die Tiefsee freigab. Ja, wahrscheinlich war es ganz schön beeindruckend, wenn man das alles zum ersten Mal sah.
Raunen und Flüstern erfüllte den Raum, denn die meisten der vierzehn Besatzungsmitglieder waren schon eingetroffen und warteten ungeduldig auf die Neuigkeiten. Bereitschaftsstufe Gelb – das hatte es schon lange nicht mehr gegeben, und nur ganze drei Mal, seit Leon mit zwölf Jahren hierhergekommen war.
Am Tisch neben ihm hatte sich John McCraddy, der Tierarzt der Station, breitgemacht, er trug seine hässliche grüne Gummischürze, die – so lautete zumindest das Gerücht – noch aus der Terrierzucht seiner Eltern stammte. Er versuchte, möglichst leise mit Greta Halvorsen, der norwegischen Biologin, zu streiten und natürlich ließ sich Greta nicht aus der Ruhe bringen. Einen Tisch weiter sah Leon Paula Norris, die kräftige Bordingenieurin; sie hatte die runden, sommersprossigen Arme verschränkt und ihr blonder Zopf hing ihr über den Rücken. Neben ihr zappelte Louie Clément, der Anzugtechniker und OxySkin-Spezialist, herum und redete nervös gestikulierend auf sie ein. Ob er den Anzug schon untersucht hatte, mit dem der beinahe tödliche Unfall passiert war?
Billie setzte sich neben Leon und Tom schnappte sich blitzschnell den zweiten Stuhl. »He, Leon, rück mal ein Stück, wir haben Besuch.« Schwungvoll machte sich Julian daran, für das blonde Mädchen eine zusätzliche Sitzgelegenheit heranzuziehen. »Das ist übrigens Carima.«
Leon streifte Carima mit einem schnellen Blick. Es überraschte ihn nicht weiter, dass Julian guter Laune war – sein Freund und Zimmergenosse beklagte sich ständig darüber, dass es nicht mehr Mädchen auf der Station gab. Wahrscheinlich würde er heute Abend endlos darüber fantasieren, ob und wie er die Neue rumkriegte. Doch seine Chancen standen schlecht – bei der medizinischen Untersuchung vorhin hatte Matti Kovaleinen, der Kommandant von Benthos II, erwähnt, dass die Gäste nur bis morgen bleiben würden. Oder reichte das Julian etwa?
Aus dem Augenwinkel bemerkte Leon, dass die Mutter des Mädchens auf der anderen Seite des Aufenthaltsraumes saß und mit Ellard und Patrick plauderte. Carima beachtete sie nicht und behielt stattdessen neugierig Kovaleinen im Auge; er schloss gerade die Tür zur Brücke und wandte sich der versammelten Besatzung zu. Er hatte den drahtigen Körper eines Marathonläufers, wirre graue Haare und eine nüchterne, freundliche Art. Wahrscheinlich hätte er als Physikprofessor durchgehen können, doch wenn er über sein Lieblingsthema redete, die Besiedlung des Meeres, dann wirkte er eher wie ein Prediger. Leon mochte sein herzliches Lächeln und hatte immer das Gefühl gehabt, dass er eine schützende Hand über die vier Jugendlichen an Bord hielt.
»He, den habe ich vorhin schon mal gesehen«, sagte das Mädchen, und Julian flüsterte irgendetwas zurück, vielleicht erzählte er ihr, dass Kovaleinen aus Finnland stammte und dort mit einer berühmten Fernsehmoderatorin verheiratet war, worauf man ihn aber besser nicht anspreche.
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Kovaleinen und seine blaugrauen Augen blickten ernst. »Ein paar von euch haben es vielleicht schon mitbekommen, was auf der Insel Maui passiert ist, nur ein paar Meilen von uns entfernt.«
Leon war irritiert. Wovon redete Kovaleinen da? Ging es bei dieser Versammlung etwa gar nicht um seinen Unfall?
»Vor ein paar Stunden haben Touristen an einem der Strände von Maui eine Menge ungewöhnlicher, sehr großer Fische bemerkt. Inzwischen ist klar, um was für eine Art es sich handelt – Regalecus glesne. Ungefähr zwei Dutzend von ihnen, zwischen drei und fünf Meter lang.« Kovaleinen warf einen grimmigen Blick in die Runde. »Sie wirkten verwirrt und kamen den Badenden sehr nahe, statt ihnen auszuweichen. Ein kleines Mädchen ist anscheinend vor Schreck von seiner Luftmatratze gefallen und wurde im Wasser treibend gefunden; zum Glück konnte es wiederbelebt werden. Und ein älterer Mann ist gestorben: Herzanfall.«
Schockiert blickten sich Leon und die anderen an. Regalecus glesne –
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