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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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erstaunlich gefasst. Er war abgestoßen, konnte jedoch den Blick nicht abwenden. Sein Glück, dass der Mörder ihn nicht bemerkte.
    Wie von Sinnen holte der Mann mit seiner Hand aus und ließ sie wieder herabfallen Die Klinge drang in den schwachen Leib der Frau und stieß dort auf Knochen. Es knirschte. Wieder trieb der Mann das Messer in die Frau, zerschnitt ihre Kleidung – so etwas wie eine Uniform –, riss sie ihr vom Leib, bis sie nur noch in Unterwäsche wimmernd vor ihm lag. Die Klinge glitt gnadenlos in ihr frierendes Fleisch. Wie viel Schmerz musste diese Frau noch erleiden?
    Der Gedanke rüttelte Philip aus seiner Lethargie. Was immer ihn in dieser Sekunde antreiben mochte, er handelte. Er riss die Kamera hoch. Blickte nicht einmal durch den Sucher. Betätigte nur den Auslöser. Der Mechanismus löste den Spiegelreflex. Es klickte. Einmal. Zweimal. Noch einmal.
    Philip hielt das Objektiv einfach auf die grausige Szenerie vor ihm gerichtet. Fünfmal. Sechsmal. Er sorgte sich nicht einmal darum, ob seine zitternden Hände die Bilder vielleicht verwackeln würden.
    Die Klinge fuhr ein letztes Mal in den erschlaffenden Körper der Frau. Ihr Mörder erwachte aus seinem Blutrausch. Zufrieden blickte er auf sein Werk herab: Die Frau war tot; ihr konnte niemand mehr helfen.
    Jäh bekam Philip es mit der Angst zu tun. Sein Verstand meldete sich erstmals zu Wort. Du bist Zeuge eines Mordes geworden! Sein Magen zog sich zusammen. Er wird auch dich umbringen, wenn er dich sieht! Eiseskälte ließ ihn gefrieren, gleichzeitig fühlte er den Schweiß sein Rückgrat hinuntersickern, ein seltsam irreales Gefühl. Wie in Trance machte er einen Schritt zurück, suchte Deckung hinter der Litfaßsäule. Er beobachtete, wie der Mann sich an der leblosen Frau vorbeischob und auf den Ku’damm trat. Seine Kleidung war blutüberströmt, aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Auch nicht, dass nur noch vereinzelt Schneeflocken umherschwebten, der weiße Flor auf dem Asphalt wieder taute und die Menschen die Geschäfte verließen. Er trat aus dem Durchgang, als sei nichts geschehen, drängte sich zwischen die Passanten und war verschwunden, als sei er nie da gewesen.
    Philip blinzelte ungläubig, der Mann blieb verschwunden. Niemand hatte ihn bemerkt. Alles ging seinen gewohnten Gang, rein in die Geschäfte, raus mit den Einkaufstüten. Sahen die Leute nicht das Blut? Waren sie mit ihrer Berliner Mentalität, Dinge nicht zu sehen, so sehr abgestumpft, dass sie nicht einmal mehr einen Mord wahrnahmen, der vor ihrer Nase geschah?
    Philip hielt die Kamera. Er hatte den Mord sehr gut gesehen. Ein Prickeln überzog seine Haut, das Wissen, gute Arbeit geleistet zu haben. Ein guter Journalist kennt keine Gnade. Die Worte seines Chefs. Zeige nie Mitleid. Mitleid führt zu Barmherzigkeit, wer barmherzig ist, verschenkt ein Foto, und Fotografen verschenken kein Foto.
    Was kümmerte ihn die Emotionslosigkeit der Menschen? Auf dem Film in seiner Kamera befanden sich die Fotos seines Lebens, davon war er überzeugt. Mit ihnen eroberte er sich die Gunst seines Chefs zurück. Sollten andere die Tote melden und sich mit der Polizei herumschlagen. Er würde das Foto in die Redaktion bringen. Journalistische Freiheit nannte man das. Und später konnte er der Polizei immer noch die Negative aushändigen.
    Auf dem Weg zur U-Bahn-Station sah er die riesige Schlagzeile bereits vor sich: AUF FRISCHER TAT ERTAPPT: BRUTALER MÖRDER! Und darunter in kleineren, aber immer noch weithin erkennbaren Buchstaben: Kurier-Fotograf überführte den Täter!
    Er war so gefangen von dem zum Greifen nahen Karriereschub, dass ihm der Mann in dem schwarzen Anzug nicht auffiel. Der Mann, der ebenfalls mit einem Fotoapparat bewaffnet war, folgte Philip und achtete dabei peinlich genau darauf, auch weiterhin unbemerkt zu bleiben.

Rom
     
     
     
    Hektik war kein weit verbreitetes Laster an diesem friedfertigen Ort. Entsprechend verwundert schauten die drei Würdenträger, die an einer der mit verschnörkelten Fresken verzierten Säulen beieinander standen, als plötzlich Pater Silvano an ihnen vorbeihetzte. Was noch viel ungewöhnlicher war, er rannte, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und holte mit den Beinen so weit aus, wie es ihm die Soutane erlaubte. Sein Gesicht lief unter der Anstrengung puterrot an.
    Während die hohen Decken das Geräusch seiner Schuhe auf den Granitplatten in einem glockenhellen Echo zurück in den Gang warfen, stellte Pater Silvano nicht

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