Ruf der Toten
Aber der Notarzt…«
Barts Worte drangen kaum noch zu ihm durch. Die Welt um Paul begann sich zu drehen. »Schlaganfall?«, wiederholte er und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. »Aber das ist unmöglich. Bea ist erst 22!«
»Ich weiß, Paul, aber der Notarzt wusste nicht weiter, und er hat sie deshalb…«
»Wo ist sie?«, unterbrach Paul.
»Sie haben sie ins Hampstead Medical High gebracht. Ich bring dich hin.«
Paul hielt bereits seine Jacke in den Händen und stand auf der Straße: »Zum Teufel, worauf wartest du dann noch?«
Berlin
»Verflucht!« Philip stolperte über die türkische Frau, die mit einem dürftig verhüllten Kleinkind im Arm am Ausgang der U-Bahn-Station Kurfürstenstraße auf dem Bürgersteig hockte. Der Plastikbecher von McDonald’s vor ihren nackten Füßen enthielt ein paar Eurocent. Er nuschelte eine Entschuldigung und suchte das Weite.
Keine zehn Meter weiter drehte sich neben einem leeren Blumenkübel eine alte verwahrlost wirkende Frau im Kreis. Das lange graue Haar flog dabei umher und bildete einen schwebenden Kranz, vielleicht das Eleganteste an ihr. Denn ihr Mantel, ihre Hose, ihre Schuhe, einfach alles an ihr schien der Caritas-Kleiderkammer zu entstammen. Philip schnappte im Vorbeieilen Worte auf, die sie in einem Sprechgesang wiederholte. »Wahrheit« und »Rettung«, oder so ähnlich, die obligatorischen Losungen der Obdachlosen und Gestrandeten zur Weihnachtszeit. Nur wenige Passanten steckten der Frau Geld zu, der Großteil beschrieb einen Bogen um sie und tauschte mitleidige Blicke. Auch dem Russen mit der pelzigen Schapka und der Geige, die er malträtierte, schenkten sie keine Beachtung. Elend war Alltag in einer Stadt wie Berlin. Egal, wo man sich aufhielt, man begegnete den sozialen Härtefällen überall. Es gab nur eine Möglichkeit, sie zu meiden: Man hörte auf, sie wahrzunehmen.
Ein eisiger Wind fegte über den Ku’damm und trieb die Menschen zu mehr Eile an. Philip schob sich durch die Massen, die Kamera dicht an den Körper gedrückt. Ein Rempler hier, ein Rippenstoß dort, unglaublich, wie rücksichtslos die Menschen vorgingen, um das Fest der Liebe in Ruhe und Zufriedenheit feiern zu können. Er selbst hasste Weihnachten. Er verabscheute die Lichterketten, die kreuz und quer über den Straßen hingen, den bunten Fensterschmuck und das unentwegte Gedudel von Frohsinn und Glück, das aus den Lautsprechern der Geschäfte tönte. Seit seiner Kindheit hasste er Weihnachten. Und ganz besonders hasste er Weihnachtsbäume.
Die krüppelige Tanne auf dem Breitscheidplatz entdeckte er, als er den Kurfürstendamm überquerte. Obwohl er es ungern tat, in einem Punkt gab er Dehnen auf Anhieb Recht: Der Baum, keine acht Meter hoch, war ein Skandal. Er trug kaum Nadeln, der krumme Stamm faulte bereits, die braunen Äste hingen verdorrt von ihm herab. Die Weihnachtskugeln und Lichterketten änderten nichts daran: Der Baum war ein Skelett, nicht aber eine vorweihnachtliche Touristenattraktion. Wen wunderte es, wenn da die Geschäftsleute rings um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf die Barrikaden gingen?
Die Fotos waren schnell im Kasten. Jetzt fehlten ihm nur noch die ›stimmungsvollen Weihnachtsmotive‹, und Philip hatte sein heutiges Soll erfüllt. Zum ersten Mal an diesem Tag verspürte er Hunger, ein Zeichen, dass sein Formtief überwunden war. Bei einem der Würstchenverkäufer erstand er eine Thüringer und ließ sich viel Senf und Ketchup dazu geben, so wie er es mochte. Während er die Bratwurst verspeiste, beobachtete er den fliegenden Händler, der den Bratrost vor dem Bauch und den Gastank auf dem Rücken trug. Diese mobilen Grillstationen fand man in ganz Berlin verstreut, überall dort, wo Touristen in Horden auftraten. Der Job wurde mies bezahlt, und leicht war er auch nicht, unbequem und alles andere als gesund für den Rücken.
Fankow hatte nicht ganz Unrecht. Eigentlich musste Philip sich glücklich schätzen, das Volontariat ergattert zu haben. Nicht jeder hatte so viel Glück und konnte sein Hobby zum Beruf machen. Manche endeten als Würstchenverkäufer und ruinierten sich für den Rest ihrer Tage ihr Kreuz mit der Grillstation.
Nüchtern betrachtet – im wahrsten Sinne des Wortes – stellten sich ihm die Ereignisse der letzten Stunden wie eine einzige riesengroße Dummheit dar. Keine Frage, er verhielt sich wie ein Idiot. Eine Entschuldigung bei Chris für sein grobes Benehmen war das Mindeste. Er nahm es sich für
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