Ruf der Toten
Zeit ist gekommen. Er bekam eine Gänsehaut und schauderte, nicht nur, weil die Temperaturen für einen Dezembertag viel zu weit im Minusbereich lagen. Er war erschöpft, durcheinander und ein bisschen aufgewühlt, kein Wunder.
Ken hat Recht: Es gibt nur Verrückte in der Stadt. Berlin war ein Moloch, der den Menschen den Verstand raubte. Gerade zu Weihnachten kamen sie alle aus ihren Löchern gekrochen, in der Hoffnung, ein wenig Mitleid, Erbarmen und ein paar Cent abzuschöpfen, ihren Teil vom Adventskuchen abzubekommen. Und er musste ausgerechnet heute die gefährlichste Irre der ganzen Stadt anziehen. O Mann, was für eine ausgemachte Scheiße!
Er schlug den Jackenkragen hoch. Ein trüber, grauer Schleier machte sich daran, den blauen Himmel zu verschlucken, und mit ihm die Sonne. Philip beschleunigte seine Schritte. Die Weihnachtsfotos würde er an anderer Stelle schießen. Vielleicht in den Ostbezirken Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, ohnehin viel interessantere Stadtteile als der Ku’damm.
Vor hundert Jahren war der Ku’damm eine Ausflugsstraße in den Grunewald gewesen, an der sich reiche Berliner zu beiden Seiten Grundstücke gesichert und Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten gebaut hatten. Von diesem vorstädtischen Charme war nichts mehr geblieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich die Wohnungen in Geschäfte, Restaurants, Cafes und Bars verwandelt, die sich aber immerhin noch eine gewisse Exklusivität bewahrten.
Inzwischen allerdings reihte sich auf der einstigen Prachtstraße ein H & M andas nächste, unterbrochen nur noch von Levis-Store, Pimkie und Coast, aus denen Hiphop dröhnte. Wie an jedem anderen Tag auch drängten sich Menschenmassen durch die Ein- und Ausgänge, mit einem einzigen Unterschied: Die nahenden Weihnachtstage trieben die Einkäufer zu noch größerer Eile.
Eine erste Schneeflocke tanzte in einer geschmeidigen Bewegung vor seiner Nase. Die Meteorologen hatten Schnee erst für das Wochenende angekündigt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich irrten. Bald fiel der Schnee in kleinen Kringeln und Spiralen, die wenig später von großen Flocken abgelöst wurden. Wie eine undurchdringliche Wand schob der Wind sie vor sich her. Die Menschen flohen in die beheizten Geschäfte. Philip hatte mal von einem Redakteur beim Kurier gehört, dass Händler nichts lieber mochten als Menschen, die vor Regen oder Schnee Zuflucht in ihren Läden suchten. Das verleitete sie dazu, mehr zu sehen und mehr zu kaufen. Für die Ladeninhaber war heute bestimmt ein guter Tag.
Auf dem Bürgersteig flocht sich ein weißer Teppich. Er betäubte die Erde, dämpfte alle Geräusche und nahm der Welt die Farbe. Nur ab und zu drang gedämpft das Geräusch eines Autos durch die weiße Wand. Ein Auspuff knatterte wie ferne Schüsse. Ansonsten schluckte der Schnee alles Leben.
»Hilfe!«
Ein erstickter Schrei durchschnitt die Ruhe. Philip warf irritiert den Kopf herum, doch der Wind raubte ihm mit seinen eisigen Schneeflocken die Sicht. Er stand neben einer Litfaßsäule, die einen alten Kinofilm anpries, von dem er noch nie gehört hatte.
»Helfen Sie mir!«
Die Stimme einer Frau, noch panischer dieses Mal. Philip trat einen Schritt nach vorne und entdeckte einen Hauseingang, der durch ein schmales Portal von der Straße getrennt lag.
Die Frau kniete in dem finsteren Durchgang, ihr zartes rundes Gesicht war Philip zugewandt. Unter anderen Umständen hätte man sie hübsch nennen können, doch jetzt flackerte die Angst in ihren Pupillen und raubte ihr die Schönheit. Ein Mann stand hinter ihr, sein eingefallener Körper versank in einem karierten ausgebeulten Jackett und einer viel zu langen Hose. Er hob die Hand und wollte den Schlüssel in das Türschloss stecken.
Licht fiel auf das Gesicht des Mannes; es war nicht nur von Alkohol zerfressen, wie Philip im ersten Augenblick angenommen hatte, sondern auch verzerrt vor Gier, Raublust und Qual – etwas Wildes, Animalisches glitzerte in den Augen. Was er zwischen den Fingern hielt, war kein Schlüssel, sondern ein Messer. Und er führte es nicht zur Tür. Seine Hand schoss nach vorn und die Klinge zischte, als sie die eisige Luft durchschnitt und sich in den Hals der Frau bohrte. Ihre Augen weiteten sich unter dem Schmerz. Ihrer Kehle entrang sich ein ersticktes Gurgeln. Blut spritzte in einer Fontäne heraus, troff von der Glasscheibe der Tür, vom Holzrahmen, von der Marmorverkleidung der Wand.
So grauenhaft der Anblick war, Philip blieb
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