Ruf der Toten
die Bude den Charme eines Wohnklos. Chris schimpfte sie sogar ›ein kleines Dreckloch‹ – von Ordnung nämlich hielt Philip gar nichts. Getragene Unterwäsche ersetzte den Teppich in der Diele, verschwitzte T-Shirts bildeten zu Haufen gerafft gemütliche Sofakissen, eine schmutzige Jeans hing an einem Haken, der eigentlich für Abwaschtücher gedacht war. Andere mochten über sein Chaos spotten, Philip fühlte sich wohl.
An diesem Montagmorgen lernte er die Vorteile der kleinen Wohnung mit ihren kurzen Distanzen schätzen. Der Weg zurück zur Kloschüssel war eindeutig zu weit, der schale Geschmack lag bereits auf seiner Zunge. Er erbrach sich in das Waschbecken der Kochnische.
Nicht nur der bittere Schleim verschwand in der Spüle, auch seine letzten Kraftreserven rannen das dunkle Abflussloch hinab. Seine Knie gaben nach, schienen kaum noch in der Lage, sein Gewicht zu tragen. Nur ein schneller Reflex seiner Hände bewahrte ihn davor, wie ein nasser Kartoffelsack in sich zusammenzusacken und mit dem Kinn auf dem Rand der Anrichte aufzuschlagen.
Wie er da stand und keuchte, und das enervierende Rasseln seiner Lungen sich mit dem des Telefons mischte, beschloss er, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Scheiß drauf, dass er vor vierzehn Tagen bereits eine halbe Woche krankgefeiert hatte. Mochte Chris – Soll das jetzt jedes Wochenende so weitergehen? – davon halten, was sie wollte, es war das einzig Richtige. Er legte sich die Ausrede zurecht: Tut mir Leid, Chef, ich hab mir ‘nen Virus eingefangen, ich kann nicht kommen, ich muss zum Arzt. So einfach war das.
Philip sah sehnsüchtig zum Balkon, der einem Erker gleich nach vorne zur Straße ging. Keine Ahnung, wann er ihn zum letzten Mal betreten hatte. Auf jeden Fall hob er sich auffällig vom Chaos in seiner Wohnung ab. Er war – von einem überquellenden Aschenbecher abgesehen – sauber und leer. Jetzt hätte Philip ihn gerne betreten. Frische Luft schien ihm eine gute Idee zu sein, doch die wenigen Meter, die ihn von der Balkontür trennten, hätten ebenso gut Lichtjahre sein können.
Zu weit, keine Chance.
Noch immer klingelte das Telefon. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete, den obligatorischen Spruch herunterleierte und den Piepston hören ließ.
»Hallo Philip? Bist du daheim? Hier ist Richard Fankow.« Fankow war Bildredakteur beim Berliner Kurier und Philips unmittelbarer Vorgesetzter. »Geh mal ran! Oder sitzt du schon in der S-Bahn? Falls ja, dann hoffe ich für dich, dass du die Fotos von der Aktion auf ›Bonnies Ranch‹ mitbringst. Die Kollegen vom Panorama warten drauf. Dringend! Sie wollen in der morgigen Ausgabe damit aufmachen. Ist also wichtig!«
Anderthalb Zwieback und zwei Aspirin später saß Philip in der S-Bahn in Richtung Alexanderplatz und kämpfte zähneknirschend gegen das Wackeln der Waggons an, die sich heute auffällig schief in die Kurven zu neigen schienen. So fest er die Fototasche auch an sich drückte und sich in seinem Sitz verkrampfte, die Übelkeit wollte nicht weichen. Dabei war er sich nicht einmal mehr sicher, ob das flaue Gefühl im Magen noch eine Nachwirkung der Nacht war oder schon die Angst vor dem bevorstehenden Donnerwetter seines Chefs.
Nicht, dass er die Aktion auf ›Bonnies Ranch‹ am Samstag versäumt hatte. Im Gegenteil, als eine Gruppe engagierter Gegner von ›Bonnies Ranch‹, wie die Karl Bonhoeffer-Klinik in Wittenau im Volksmund genannt wurde, in einer Nacht- und Nebelaktion das Hospitalschild mit einem neuen Namen überklebt hatte, Lady Di-Clinic, hatte Philip am Samstag Mittag Fotos davon gemacht. Die Klinik-Betreiber waren alles andere als glücklich über das Erscheinen der Presse gewesen. Immer wieder stand die Psychiatrie wegen ihrer NS-Vergangenheit in der Kritik. Um neuerliche Negativschlagzeilen zu verhindern, hatten sie Philip und einen Redakteur sogar zum Kaffee eingeladen, ihnen in einem Rundgang die Klinik und dabei auch eine Dauerausstellung gezeigt, mit der sie seit Jahren ihre ganz eigene Vergangenheitsbewältigung betrieben. Doch der Film mit den Aufnahmen befand sich nach wie vor in Philips Kamera und war noch nicht entwickelt.
In der linken Hosentasche vibrierte sein Handy. Das Display zeigte die Nummer seiner Freundin an. »Hallo Chris.«
»Wie geht es dir?«
Die Bahn schoss in die Station Jannowitzbrücke und bremste. In der einen Hand das Handy, in der anderen die Fototasche, von dem latenten Rumoren im Bauch ganz zu
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