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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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schweigen, fiel es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. »Ich bin in Ordnung.«
    »Wo steckst du?«
    »In der S-Bahn. Auf dem Weg zur Arbeit.«
    »Nicht wirklich?«
    »Klar, was denkst du denn?«
    »Wenn ich ehrlich sein soll…«
    Er schnaubte. »Du glaubst also, ich würde wegen einer Lappalie wie heute Morgen blaumachen?«
    »Naja, wie eine Lappalie sah das nicht aus.«
    Ein älteres Paar bestieg den Waggon und setzte sich auf die Bank ihm gegenüber. Unter ihren Pudelmützen starrten sie ihn unverwandt an. »Ach Chris, bitte nicht die alte Leier, okay? Ich habe doch schon gesagt, es war alles halb so wild.«
    Ihr Schweigen verriet ihm, dass sie nicht so dachte, es jedoch vorzog, die Debatte auf später zu verschieben.
    Die Bahn fuhr an und gewann rasch an Geschwindigkeit. Die Häuser flogen an den Fenstern vorbei, ein Anblick, der ihn schwindeln ließ. Der Fernsehturm kam in Sicht und mit ihm der weiträumige Alexanderplatz; aus der sozialistischen Hochbautristesse wuchsen das Berolinagebäude und das Alexanderhochhaus – letzte Überbleibsel des einstigen Weltstadtplatzes – wie Oasen in einer ansonsten vertrockneten Wüste. Gegenüber dem Bahnhof Alexanderplatz erhob sich das Park Inn in einen erstaunlich blauen Dezemberhimmel.
    Das ältere Paar auf dem Platz gegenüber beäugte ihn skeptisch. Vielleicht weil er seit einer Minute ein Handy am Ohr hielt, aber keinen Ton sagte. Was störte die das? In Berlin liefen durchgeknalltere Typen als er herum. Ken, sein bester Kumpel, der Soziologie studierte, konnte ein Lied davon singen.
    »Philip?« Chris Stimme war kaum hörbar.
    »Ja, Chris?«
    »Pass auf dich auf.«
    »Mach ich doch immer.«
    »Sehen wir uns heute Abend?«
    »Klar!«, versprach er und sie legten auf.
    Das Verlagshaus des Berliner Kurier war, wie alle anderen Gebäude rings um den Alexanderplatz auch, ein graues Betonrelikt aus DDR-Zeiten, starr, hässlich und einfach nur funktional. Das einzig Farbige war die rote Leuchtreklame am Dachfirst: grell und aufdringlich wie das Boulevardblatt selbst.
    An diesem Morgen hatte Philip keinen Blick für die Tristesse übrig, er konzentrierte sich aufs Ein- und Ausatmen. Er ließ den Pförtner hinter sich, überlegte kurz, ob er die Treppe oder den rumpelnden Fahrstuhl nehmen sollte, und entschied sich dann für den schnelleren Aufzug. Mit einem Satz beförderte der ihn in die vierte Etage, wo die Bildredaktion ihren Sitz hatte. Seine Fotoausrüstung fest an sich gedrückt, schritt er vom Fahrstuhl zur Redaktionsleitung am Ende des langen, schmalen Ganges und vermied es aufzuschauen. Das grelle Licht der Neonröhren quälte auch so schon seine empfindlichen Augen.
    »Sieh an, unser Praktikant gibt sich die Ehre!«
    Philip grub die Finger in die Fototasche. Er blieb neben einer mannshohen Vitrine stehen, in der Auszeichnungen, Urkunden und Plaketten ausgestellt waren, die Fotografen des Kurier mit ihren Arbeiten errungen hatten. In dem überheizten Raum rechts davon beugte sich ein schmächtiges Männlein mit grauem Haarkranz über einen Leuchttisch, der viel zu hoch für ihn war, und platzierte Negative in Reih und Glied: Rüdiger Dehnen, der Berlin-Fotograf des Kurier. Der fehlte ihm gerade noch! Philip verzichtete auf den Hinweis, dass er kein Praktikant mehr, sondern bereits Volontär war, und gönnte dem Fotografen seinen täglichen schlechten Scherz.
    Er zwang sich zu einem Lächeln. »Morgen, Rüdiger.«
    »Morgen, Philip. Ich hab schon gar nicht mehr mit dir gerechnet.«
    Philip glaubte ihm das unbesehen. Dehnen hielt nicht viel von ihm und ließ keine Gelegenheit aus, ihm das unter die Nase zu reiben. »Ach, nicht?«
    Dehnen hielt in der Bewegung inne und blickte von der Leuchtplatte auf. »Wie siehst du denn aus?«
    »Wie sehe ich aus?«
    »Na eben scheiße!«
    Philip zuckte mit den Achseln. Mit der Hose und dem Hemd, die beide mindestens zwei Nummern zu groß waren und schlotternd an ihm herabhingen, den kraftlosen Lidern und dem spärlichen Haarwuchs erinnerte Dehnen selbst nur bedingt an einen Adonis. »Danke für das Kompliment.«
    »Was ist los mit dir?«
    Philip fehlte die Lust, mit dem Fotografen über seinen Gesundheitszustand zu plaudern. Da ihr Verhältnis aber sowieso schon von ständigen Sticheleien geprägt war, wollte er nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen. »Ich glaub, ich hab mir ‘nen Virus in der Pizzeria eingefangen.«
    Dehnen schob wieder die Negative auf der weißen Glasplatte hin und her. »Einen Virus? Soso.« Der

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