Ruf der Toten
mehr Nachdruck, obwohl sein Chef es schon nicht mehr mitbekam. Er sortierte die Unterlagen auf dem Schreibtisch und blieb stumm, schob einen Stapel Pressemeldungen auf einen bereits vorhandenen Haufen, andere zerriss er und ließ sie in den Mülleimer fallen.
Fankow verströmte inmitten der ständig rotierenden Redaktion eine verstörende Gelassenheit. Er saß hinter seinem Schreibtisch und ließ die Nachrichten an sich vorbeiziehen wie den Vormittagsverkehr auf der Frankfurter Allee.
So verging eine Weile, ohne dass Philip den Mut aufbrachte, das Schweigen zu brechen. Die Standpauke war noch nicht vorüber, so viel war sicher. Irgendwann sah Fankow auf. Sein Blick schweifte vom Alexanderplatz hin zu der basketballgroßen Plastik am anderen Ende des Raumes und von dort zu Philip: »Du willst doch Journalist werden?«
»Ja… Natürlich.«
»Dann appelliere ich an deinen Verstand: Ein guter Journalist konzentriert sich auf seinen Job. Ein guter Journalist kennt keine Gnade. Auch nicht sich selbst gegenüber. Das ist das Entscheidende! Ein paar über den Durst trinken kannst du jederzeit, das ist in Ordnung. Aber wenn die Arbeit ruft, dann bist du nüchtern und fit, sofort! Oder tust zumindest so, als seiest du fit… Und hängst nicht wie ein nasser Kartoffelsack auf dem Stuhl!«
Philip rappelte sich peinlich berührt auf.
»Gönne dir keine Atempause.«
»Wie bitte?«
»Gönne dir keine Atempause! Sonst laufen dir deine Bilder weg. Zeige nie Mitleid, nicht mit dir, wenn du mal wieder zu viel gesoffen hast. Aber auch nicht mit den Menschen, die du fotografieren sollst.« Für einen Moment wurde Fankow sichtlich sentimental. Er rückte sich die Brille zurecht, bevor er fortfuhr: »Mitleid führt zu Barmherzigkeit. Wer barmherzig ist, verschenkt ein Bild, und Fotografen verschenken keine Bilder. Das sage ich dir nicht nur, weil wir hier beim Kurier sind und Boulevard einer unserer Schwerpunkte ist. Es wird für dich und deinen weiteren Berufsweg als Fotograf wichtig sein, vielleicht sogar existentiell. Schreib es dir also hinter die Ohren. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Okay. Dann verschwinde. Geh zu Rüdiger, er hat einen Auftrag für dich.«
Ausgerechnet das, ausgerechnet Dehnen. Doch Philip sparte sich die Bemerkung und schlich ergeben aus dem Zimmer. Als er auf dem Flur stand, wagte er endlich, Luft zu holen. Wie durch ein Wunder waren Übelkeit und das Schwindelgefühl verschwunden. Was Zwieback und Aspirin nicht vermocht hatten, die Standpauke hatte es erreicht.
Doch dem nächsten Dämpfer marschierte er bereits entgegen. Als er keine halbe Minute später dem Fotografen gegenüberstand, konnte der seine Genugtuung nicht verhehlen. Dehnen grinste über das ganze Gesicht und wies mit einem seiner dünnen Finger nach draußen, wo gegenüber ein Trupp Handwerker eine Weihnachtstanne auf dem Parkplatz des Hotels Park Inn aufrichtete. »Siehst du das?«
Philip öffnete den Kragen seiner Jacke. Dehnen hatte die Heizung mal wieder auf Volldampf stehen. »Ich sehe einen Weihnachtsbaum. Und?«
»Ich habe einen Auftrag für dich.«
Philip schwante Böses. »Sagte mir Fankow schon.«
»Dann versau ihn nicht auch noch.«
Am liebsten hätte Philip den arroganten Fotografen gewürgt, immer und immer wieder, bis dessen kleine glubschige Augen aus den Höhlen quollen. Stattdessen versicherte er eifrig: »Mach ich nicht.«
»Schön. Dann fahr raus zum Kudamm. Dort hat die Stadt einen Weihnachtsbaum errichtet.«
Philip verzog den Mund. »Ich soll einen Weihnachtsbaum fotografieren?«
»Korrekt.«
In seinen Achselhöhlen sammelte sich der Schweiß. Wie konnte Dehnen es in dieser Sauna aushalten? »Komm, Rüdiger, nicht das!«
Dehnen zeigte seine Zähne, zwei nikotingelbe Reihen. Er genoss die Situation. »O doch. Aber tröste dich. Es ist nicht wirklich ein Weihnachtsbaum. Es handelt sich dabei um eine Krüppeltanne, der absolute Bringer. Ein Skandal.« Er kicherte. »Die Geschäftsleute auf dem Ku’damm springen bereits im Dreieck. Und damit noch nicht genug. Wir brauchen außerdem ein paar schöne Stimmungsbilder für die Adventszeit.« Er legte den Kopf schief, prüfte, ob Philip auch angemessen litt. Dann beugte er sich zufrieden über seine Leuchtplatte, nicht ohne eine letzte Spitze. »Tröste dich, jeder Fotograf fängt mal klein an.« Seine Stimme troff vor Schadenfreude.
Das Bedürfnis, den kleinen Mann zu würgen, wurde abgelöst von dem Drang, ihn windelweich zu schlagen, am liebsten mit
Weitere Kostenlose Bücher