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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Sprünge zu helfen. Die Zeitung, die er in den Händen hielt, war auf den 17. Dezember 1921 datiert. Plötzlich zitterten seine Finger.
    Er hatte nicht viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn die beiden Polizisten – dass sie Polizisten waren, daran hatte Philip keinen Zweifel mehr – winkten ihn zu sich. »Der Kriminalkommissar möchte Se sprechen.«
    Auf der anderen Seite des Ganges öffnete sich eine Tür. Ein kleines, gedrungenes Männlein kam zum Vorschein und schob sich, ohne auf Philip zu achten, an ihm vorbei. Ihre Schultern streiften einander und Philip schauderte. Die Berührung war elektrisierend und prickelte wie tausend Ameisen auf der Haut. Doch auch der Mann schien wie von einem Stromschlag getroffen, ruckartig hob er den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er Philip von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Sekundenlang hielten beide inne, kein Laut war zu hören. Dann brach der Bann. Der Mann lief weiter, machte den Weg in das Zimmer des Kriminalkommissars frei.
    Was immer Philip hinter der Tür erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch, auf dem sich Akten zu wahren Bergmassiven stapelten, thronte ein noch gewaltigerer Mann, der mindestens drei Zentner wiegen musste.
    Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination beobachtete Philip, wie sich der Koloss mit einem fleckigen Taschentuchknäuel einen Sturzbach aus Schweiß vom Nacken tupfte. Ungerührt von Philips Reaktion – wahrscheinlich war der Mann es gewohnt, wie ein exotisches Tier angestarrt zu werden – stellte sich der Kommissar als Ernst Gennat vor, Chef der Berliner Mordkommission.
    »Ich hoffe«, knurrte er, »Sie haben mir mehr zu erzählen als dieser Spinner.« Sein fleischiger Kopf wies auf den Flur. »Hat mir beinahe die ganze Nacht gestohlen. Als würde es nicht reichen, dass Typen von dieser Sorte mir den lieben langen Tag meine Zeit stehlen, jetzt müssen sie mich auch noch nachts belästigen.«
    »Wer war das?«, fragte Philip, auf dessen Haut das Sirren langsam abebbte.
    »Das?« Gennat brummte abfällig. »Das war einer jener Spinner, die meinen, sie wüssten mehr als die Polizei.« Sein fülliger Schädel wackelte entrüstet und das Doppelkinn schwappte. »Was ist bloß aus unserem Land geworden? Dieses dekadente Pack.« Er musterte Philip. »Doch kommen wir zu Ihnen. Was fange ich mit Ihnen an, junger Mann? Man sagte mir, man hat Sie am Potsdamer Platz angetroffen.«
    »Wenn man es Ihnen gesagt hat.«
    »Man sagte mir auch, dass Sie Freude daran haben, sich der Obrigkeit zu widersetzen.«
    Philip hielt es für klüger, den Mund zu halten und nur zu reden, wenn er dazu aufgefordert wurde.
    »Sie wissen, was passiert ist?«
    Zögerlich sagte Philip: »Ein Mord.«
    »Richtig«, bestätigte Gennat und fügte mit besonderer Betonung hinzu: »Wieder ein Mord. Als hätten wir nicht schon genug Frauen verloren.« Resigniert umschlossen seine Hände den gigantischen Bauch. »Aber wen wundert es? Alles bricht zusammen, die Frauen kleiden sich nicht mehr wie Frauen, legen Haarnadeln, Korsetts und lange Röcke ab. Ich sage Ihnen, sie provozieren es, ja, genau das tun sie.«
    Philip dachte für einen Augenblick an die Mädchen im Tresor. Was der Kommissar wohl zu bauchfreien Shirts sagen würde? Aber er schwieg, das hier war eine andere Zeit, ein anderes Zeitalter. Bei dem Gedanken allein wurde ihm fast übel.
    »Also, junger Mann, was haben Sie gesehen?«
    »Ich?«
    Der Kommissar hob verzweifelt die feisten Finger. »Sehen Sie noch jemand anderen im Raum?«
    Philip widerstand dem Reflex, sich umzudrehen.
    »Natürlich meine ich Sie! Was haben Sie gesehen?«
    »Ich habe nichts gesehen. Ich bin gestolpert, und plötzlich lag ich in der Baugrube, aus der mich Ihre Kollegen dann freundlicherweise herausgezogen haben.«
    Über Gennats Gesicht huschte ein heiteres Lächeln, das aber sofort wieder von den wogenden Fettmassen absorbiert wurde. »Hören Sie, es ist spät in der Nacht und mir fehlt die Lust, mich mit solchen Spielereien auseinander zu setzen. Offen gestanden, ich weiß nicht, warum man Sie mir überhaupt vorgeführt hat. Manchmal zweifele ich am Verstand meiner Kollegen. Da sage ich, wir brauchen Zeugen, und was bringen sie mir? Einen jungen Burschen, den sie in einem Loch gefunden haben, einen abgerissenen Streuner.«
    Aus einem Aktenordner fischte er ein Foto und hielt es Philip vor die Nase. »Machen wir es kurz: Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
    Philip unterdrückte ein

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