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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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über seinen Körper – nicht aber über seine Sinne.
    Die gewaltigen Schluchten zwischen den Hochhäusern wölbten sich auseinander, verschluckten ihn begierig. Die Bauten selbst schienen nicht mehr aus Stahl und Beton, sondern aus Gummi zu bestehen. Sie senkten ihre Köpfe über ihn, glotzten ihn mit tausend dunklen Fensteraugen an. Sie beugten sich tiefer, immer tiefer, wollten ihn erdrücken. Der Asphalt unter seinen Füßen verwandelte sich in Schaumstoff, durch den er wie in einem Sumpf watete. Es gelang ihm kaum noch, seine Schritte zu beschleunigen. Es war, als würde ein hungriger Sumpf ihn in die Tiefe saugen. Er wollte sich abwenden, doch als er ein Bein zurücksetzte, war selbst der Schaumstoff verschwunden. An seiner Stelle war nur noch ein Loch. Halt suchend griff er um sich, doch da war nichts, nur der Graben unter seinen Füßen.

Berlin
     
     
     
    Als Philip die Augen öffnete, erhob sich rings um ihn eine Wand aus Erde und Stein, über der die Nacht gefror. Er lag in seinem Grab, verabschiedete sich von den Sternen, die vereinzelt am Himmel aufblinkten, und wartete darauf, dass der Bestatter den Deckel auf seinen Sarg schieben und der Pfarrer die erste Schaufel mit Erde hinabstreuen würde.
    Ein Mann beugte sich über das Grab. »Hat’s Ihnen janz scheen die Sprache verschlagen, junger Mann, wa?«
    Warum sollte er auch tot sein? Er war über seine eigenen Beine gestolpert, mehr nicht. Dann musste er für einen Augenblick das Bewusstsein verloren haben. Kein Wunder bei dem Horrortrip!
    Er erhob sich, und der Mann reichte ihm von oben die Hand. Mit einem beherzten Sprung gelangte Philip zurück auf die Straße. Jetzt konnte er betrachten, in welche Peinlichkeit er sich gebracht hatte. Bauarbeiter hatten eine große Grube geschaufelt, direkt neben dem Zugang zur…
    U-Bahn-Station, hatte er denken wollen. Doch da waren keine Stufen, die in die Berliner Unterwelt führten. Verwundert wischte er sich den Dreck von den Kleidern und nahm zur Kenntnis, dass er nur im T-Shirt in der Kälte stand. »Ist eine janz scheene Scheiße, was die hier machen, aber der Fortschritt lässt sich wohl nicht mehr aufhalten«, sagte der Mann neben ihm.
    Er trug eine blaue Uniform, die ihm eine steife Haltung aufzwang und an militärische Disziplin gemahnte. Diesen Eindruck unterstrich sein Schnauzbart, der in einem strengen Bogen zu den Wangen gezwirbelt war. Um sein Handgelenk baumelte ein Schlagstock. Der Mann sah aus wie ein aus einem Historienschinken entsprungener preußischer Gardeoffizier. Ken hatte vollkommen Recht – diese Stadt war voller Verrückter.
    »Danke für die Hilfe«, sagte Philip und wandte sich zum Gehen.
    Etwas Hartes schlug gegen seine Schulter. Mit der Spitze des Gummiknüppels tippte der Schnauzbart ihn an.
    »Nun mal nicht so schnelljunger Mann!«, befahl er barsch.
    Diese Verwarnung war überflüssig; Philip rührte sich ohnehin nicht mehr. Er kniff die Augenlider zusammen, doch es änderte nichts an dem, was er sah. Oder besser: Was er nicht sah. Die Stahl- und Betontürme waren verschwunden. An ihrer Stelle umgaben Lokale und Geschäftshäuser den Potsdamer Platz, idyllische Jugendstilbauten mit den unverwechselbaren Linien und Ornamenten auf Pfeilern und Balken. Und als wäre das der Merkwürdigkeiten noch nicht genug, kreuzten Autos aus der Gründerzeit der mobilen Fortbewegung den Platz, dazwischen vereinzelt Droschken und Straßenbahnen, wie man sie allenfalls noch aus Schulbüchern kannte.
    »So schnell kommen Se mir hier nich weg«, drang die Stimme des Uniformierten wie aus einer anderen Welt an sein Ohr.
    Aus einer anderen Welt?
    Philip drehte sich um, fühlte sich in einen Traum versetzt – er war anwesend, betrachtete das Geschehen aber durch einen Schleier der Distanz.
    Der Schnauzbart bekam Gesellschaft. Auch der Neuankömmling trug eine Uniform, dazu noch eine Pickelhaube auf seinem Kopf. Er wirkte wie eine Schießbudenfigur. Beide sahen sie Philip aufmerksam an.
    »Bevor Se verschwinden, wüssten wir gerne, was Se sich hier nachts so rumtreiben.«
    »Ich wüsste nicht, dass es neuerdings verboten ist, hier am…«
    Philip verstummte, als der Schnauzbart den Stock auf seine Handfläche knallen ließ. »Nun aber mal nicht unhöflich werden, junger Mann«, mahnte er.
    Die beiden Männer traten näher heran und ließen ihn nicht aus den Augen. An ihren Mienen war nicht zu erkennen, ob sie scherzten. Ihre Pupillen wanderten von seinen Schuhen langsam hinauf zu seinem Hemd. Das

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