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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Aufstöhnen; er kannte den Mann tatsächlich. Die vom Alkohol zerfressene Visage, der ausgemergelte Körper, der in den viel zu großen Kleidern beinahe versank, diese abstoßende Gestalt. Er erkannte ihn sofort, auch wenn es ihm nicht gelungen war, ihn auf Zelluloid zu bannen. Aber was sollte er dem Kommissar sagen? Ja, natürlich, ich habe diesen Mann gesehen, aber erst in 80 Jahren!
    »Nein«, antwortete er also und hoffte inständig, dass er überzeugend klang. Denn wenn nicht, kam er gehörig in Erklärungsnotstand. »Wer soll das sein?«
    »Das ist Carl Großmann, auch bekannt als der Blaubart vom Schlesischen Hof. Dank sei unseren aufmerksamen Gazetten; diese verdammten Schmierfinken. Wir sind davon überzeugt, dass er für die Morde verantwortlich ist. Aber uns fehlen die Beweise.«
    Damit hatte Gennat alles erklärt, was er zu erläutern gedachte. Genervt wedelte er mit den Armen. »Verschwinden Sie und sehen Sie zu, dass Sie was Warmes zum Anziehen bekommen. Ist lausig kalt draußen.«
    Philip hielt den Türgriff bereits umschlossen, als Gennat ihn noch einmal zu sich rief. »Ich vergaß…« Zwischen seinen massigen Händen erschien das Handy. »Ihr Spielzeug.« Er warf es ihm über den Schreibtisch hinweg zu, und Philip schnappte es gerade noch, bevor es auf den Boden fiel. »Sie können mir sicherlich nicht erklären, was das ist?«
    Für einige Sekunden lang sahen sie sich an. War da ein Schimmer des Verstehens in Gennats Augen? Dann lehnte sich der Kommissar wieder in seinem protestierend knarrenden Stuhl zurück und angelte sich einen Aktenordner von dem vor ihm aufragenden Berg. Philip tat seinen Eindruck als Täuschung ab und verließ den Raum.
    Schnauzbart und Haube geleiteten ihn hinunter zum Ausgang und entließen ihn in die sternenklare Nacht, die bereits wieder feine Eisröschen auf die Fenster zauberte. Als Philip die Stufen zur Straße hinab hinter sich gebracht hatte, tauchte aus den Schatten das kleine Männlein auf, mit dem er vor dem Büro des Kommissars beinahe zusammengestoßen war. Er reichte Philip seine Jacke, die dieser dankbar überstreifte.
    »Wie heißt du?«, fragte der Unbekannte.
    Philip nannte ihm seinen Namen.
    »Du bist nicht von hier, oder?«, wollte er wissen.
    »Doch, natürlich, ich bin aus Berlin.«
    Der Mann wehrte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Das meine ich nicht. Du bist nicht von jetzt.« Nachdenklich ergänzte er: »Nicht aus dieser Zeit.«
    Philip fixierte sein Gegenüber; er war von kleiner Statur, gleichwohl verliehen ihm sein feiner Zwirn und die sorgfältig gegelten Haare mit dem Seitenscheitel eine respektvolle Würde. »Wer sind Sie?«
    »Man nennt mich Hanussen – den Magischen Hanussen.«

Berlin
     
     
     
    Hanussen erzählte Philip, er arbeite als Illusionist in einem Variete namens Weiße Maus, und schwärmte von den begeisterten Reaktionen, die er mit seinen Vorführungen beim Publikum hervorrief. Doch ließ er auch durchblicken, dass er sich zu Höherem berufen fühlte.
    »Die Menschen akzeptieren nur ungern Dinge, die sie nicht verstehen können«, schloss er seine Ausführungen, und seine Augen verweilten auf Philip. Sein Blick war durchdringend, als könne er direkt in Philips Seele sehen. Ein Schauer kroch seinen Rücken hinab. Er bemühte sich, an andere Dinge zu denken, wollte die Tür zu seinem Bewusstsein vor Hanussen verschließen. Vergeblich. Was Hanussen entdeckte, ließ ihn milde lächeln.
    »Ich glaube, du brauchst Hilfe.«
    »Brauche ich die?«, entgegnete Philip, weil ihm nichts Besseres einfiel. Hanussen verwirrte ihn.
    »O ja, mein Lieber, kein Zweifel.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Mein Junge, du bist im Besitz einer wunderbaren Gabe, wie sie unter einer Million Menschen vielleicht kein zweiter sein Eigen nennen kann. Nur hast du das noch nicht erkannt, und du weißt auch nicht, wie du mit ihr umgehen sollst, geschweige denn, wie du sie nutzen kannst.«
    Philip spürte das Band, das zwischen ihnen geknüpft war, seit sie sich vor dem Zimmer des Kommissars zum ersten Mal gegenübergestanden hatten. Es war seitdem nicht gerissen, allenfalls schwankte seine Intensität. Jetzt war es stark, sehr stark. Zum ersten Mal stand ihm mit Hanussen ein Mensch gegenüber, der verstand, welche Sorgen ihn bewegten, weil er war wie Philip. Mit einer Fähigkeit gesegnet, die auch ein Fluch war.
    Hanussen sprach weiter: »Und deshalb hat sich dir noch nicht erschlossen, warum das alles mit dir geschieht. Vertraue mir, nichts ist

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