Ruf der Toten
Stirn auf den Kragen seiner Robe tropfte.
Er war alt, seine Glieder gebrechlich. Jede Bewegung, die er machte, erinnerte ihn daran. Aber zum Glück war es nicht mehr allzu weit. Er trieb sich zu noch größerer Eile an und zwang sich, seine schmerzenden Knochen nicht zu beachten.
Dann stand er endlich vor seinem Ziel, einem hohen Portal. Wenige Schritte weiter befand sich das Zimmer des Generalsekretärs der Kurie, Herr über sämtliche Rechtsangelegenheiten im Vatikan. Aber das war im Augenblick egal.
Ohne zu überlegen, drückte Silvano die Tür auf und durchmaß die sich anschließende Vorhalle mit weiten Schritten. Beiläufig registrierte er, wie sich der Sekretär hinter seinem Schreibtisch erhob, um sich ihm in den Weg zu stellen. Er schien nicht um die Dringlichkeit der Angelegenheit zu wissen, offenbar gehörte er nicht zu ihnen, den Freunden, wäre er sonst nicht eingeweiht?
Silvano drängte ihn ohne ein Wort beiseite. Viel hätte er ohnehin nicht sagen können, so heftig keuchten seine Lungen. Er stürzte in das Zimmer hinter der zweiten Tür. Auch für deren geschwungene Verzierungen hatte er diesmal kein Auge.
An einem Tisch saß Ricardo de Gussa, hoch gewachsen und mit streng zurückgekämmten Haaren, die in einem vollen Schwarz-Ton glänzten, so dunkel wie die Soutane, die er am Leib trug. Es gab einige, die sich darüber ereiferten, dass dieser Mann sich nicht seinem Alter entsprechend verhielt – hinter vorgehaltener Hand, wohlgemerkt. Niemand wagte es, ihn offen zu kritisieren, denn er war Bischof und als solcher besaß er Macht. Man munkelte, er sei ein sehr, sehr enger Vertrauter des Heiligen Vaters. De Gussa wusste um diese Gerüchte. Es war nichts daran, wie so oft bei Gerüchten, aber de Gussa gab sich auch keine Mühe, sie zu zerstreuen.
Jetzt schaute er ungehalten von einem Buch auf, als der alte Padre in sein Zimmer stürzte. Er mochte es nicht, wenn man unangemeldet hereinplatzte. De Gussa konnte sehr unbequem werden, sein Sekretär bekam das manchmal zu spüren. Doch dann erkannte er, wer der Störenfried war, und er entspannte sich.
Beinahe rutschte Silvano auf dem gebohnerten Parkett aus und war einen Augenblick lang kurz davor, sich vor dem Bischof der Länge nach hinzulegen. »Aber, aber, mein Freund«, schmunzelte de Gussa.
»Entschuldigen Sie, Exzellenz«, hüstelte der Sekretär, der dem Padre mit eiligen Schritten folgte. Er fürchtete die Wutanfälle des Bischofs, wenn dieser während einer Ruhephase gestört wurde. »Er ist…«
»Er ist… er ist…«, schloss sich Silvano dem Stammeln des Sekretärs an. Das Lächeln verschwand aus de Gussas Miene.
Mit einem Mal wusste er, was der alte Pater ihm mitteilen wollte, noch bevor dieser seinen Satz zu Ende gebracht hatte. Mit einer ungeduldigen Handbewegung verscheuchte er seinen Sekretär, der sich demütig verbeugte und den Raum verließ.
»Er ist erwacht«, stieß Silvano hervor.
De Gussa nickte nur und überlegte, während seine Finger nervös mit dem violetten Amethyst in seinem Ring spielten. »Kommen Sie!«, rief er schließlich. Er band das weinrote Zingulum enger, raffte die Schöße der Soutane und gab seinem Sekretär beim Hinausgehen den Auftrag, für den heutigen Tag keine Anrufe mehr entgegenzunehmen.
Gemeinsam gingen sie den Weg zurück, den Silvano erst vor wenigen Minuten gekommen war. Obwohl er genau wusste, wo ihr Ziel lag, ließ de Gussa sich führen. Es war eine Angewohnheit von ihm, sich in seinem Auftreten zurückzunehmen. Das verleitete die Menschen dazu, ihn zu unterschätzen. Oder es verlieh ihnen, wie im Falle dieses armen alten Padres, das Gefühl von Bedeutsamkeit. Es flößte Vertrauen ein, wenn man Menschen den Eindruck gab, jemand wie er, ein Bischof, würde sich auf ihre Hilfe verlassen.
Sie erreichten den Zugang zum Keller. In dem weitläufigen Raum lagerten löchrige Paramente, zerbröselnde Kerzen und schimmelnde Missale. Weitere Türen führten in weitere Kellerräume, die mit klammem Holz, zerfasernden Roben und anderen liturgischen Überresten bis unter die Decken gefüllt waren und über denen ausgebreitet der Mantel des Vergessens lag.
Der Geruch der Fäulnis war so intensiv, dass de Gussa unwillkürlich den Atem anhielt. Er hatte sich lange Zeit nicht mehr in diesem Keller aufgehalten. Drei, vier Jahre, vielleicht auch fünf. Eine lange Zeit, in der die Erinnerung an manche Dinge, Nebensächlichkeiten, durchaus verblassen konnte.
De Gussa wusste, niemand würde die vielen
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