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Ruf Des Dschungels

Ruf Des Dschungels

Titel: Ruf Des Dschungels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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Blut aus dem Kopf wich. Der Uniformierte wandte sich dem nächsten Mann zu und drückte erneut ab. Ein Knall, und er schritt zum dritten, der nächste Knall, dann Stille. Ich starrte auf die drei leblosen Körper in der Mitte des Platzes und auf das Blut, das stoßweise aus ihren Köpfen quoll.
    Die Zeit schien stillzustehen, ich war wie gelähmt. Plötzlich zog Mari mich zurück, ich blickte sie an und sah Entsetzen in ihren Augen. Da ertönten Rufe im Hof, Schritte kamen auf uns zu.
    Wir sprangen hoch und rannten los, alles um mich herum verschwamm, ich merkte nur, dass Mari direkt vor mir lief.
    Schließlich, ich kann mich nicht erinnern, wie, erreichten wir den kleinen Laden neben Maris Haus. Als hätte der Besitzer uns erwartet, winkte er uns rasch zu sich hinter die Ladentheke. Er schob einen Vorhang beiseite, der ein Regal unter der Theke verbarg, wir krochen hinein, und er zog den Vorhang hinter uns zu. Stille.
    Kurz darauf hörten wir Schritte, Männer rannten auf den Laden zu und traten ein. Ich blickte zu Mari und sehe noch heute vor mir, wie sie mich mit ihren großen, dunklen, vor Schreck weit aufgerissenen Augen anstarrte. Vor Angst wie gelähmt, wagten wir nicht zu atmen, zwei kleine, dünne Mädchen, zusammengekauert in ein Holzregal unter der Ladentheke.
    Der Wortwechsel über unseren Köpfen drang nur undeutlich zu uns durch. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis der Ladenbesitzer endlich den Vorhang zurückzog und wir herauskrabbeln konnten. Er hob uns hoch, setzte uns auf unsere Plastikstühle und gab jeder von uns eine Hand voll Bonbons. Dann kniete er sich vor mich hin und nahm mein Gesicht in beide Hände. Seine Worte brannten sich in mein Gedächtnis, als er sagte: »Vergiss, was du gerade gesehen hast. Es ist nicht wichtig. Es waren bloß ein paar Trinker. Sie haben den Tod verdient.«
    Als ich später nach Hause kam und meine Mutter mich fragte, was ich den Tag über erlebt hatte, sagte ich nur: »Ach, ich hab heute bloß ein paar Trinker gesehen.«
    Ich war damals sechs Jahre alt und hatte eine Freundin. Sie hieß Mari.

Inzwischen ist es über drei Jahrzehnte her, dass meine Eltern beschlossen haben, in Indonesien, genauer: im Dschungel von West-Papua, bei einem gerade entdeckten Eingeborenenstamm zu leben. Ich verbrachte meine Kindheit in der Abgeschiedenheit des »Verlorenen Tals«, mitten im Gebiet der Fayu, bevor ich im Alter von siebzehn Jahren in die Schweiz auf ein Internat kam, um meinen Schulabschluss zu machen. Den Schock, den ich damals empfand, als ich die Welt meiner Kindheit verließ und mit einer mir völlig fremden Welt konfrontiert wurde, habe ich bis heute nicht verwunden. All die Jahre, die ich inzwischen in der westlichen Zivilisation lebe, begleitet mich das Heimweh nach West-Papua, treibt mich der Wunsch, endlich nach Hause zurückzukehren. Ich brenne vor Sehnsucht, den Dschungel wiederzusehen, damit die Wärme dieses Landes und der dort lebenden Menschen von neuem in meine Seele dringen und sie erfüllen kann.

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1 Meine Reise
    I ch möchte Sie mit auf die Reise nehmen, auf eine Reise durch die Zeit, auf eine Reise, die mitten in die Herzen derjenigen führt, deren Schreie ungehört verhallen.
     
    Es war Ende Oktober 2005 . Ich saß im Zug. Neben mir auf der Sitzbank standen ein großer Alukoffer und ein gelber Rucksack. Müde starrte ich aus dem Fenster. Es war noch immer dunkel, die aufgehende Sonne ließ sich nicht mal erahnen. Ich war auf dem Weg von München nach Frankfurt, zum Flughafen.
    Eigentlich hätte ich vor Freude außer mir sein sollen, aufgeregt und gespannt, doch mein Herz war schwer. Ich spürte, wie eine schleichende Angst von mir Besitz ergriff.
Was, wenn ihnen etwas passiert, während ich weg bin? Was, wenn sie mich schrecklich vermissen und die ganze Zeit weinen?
Ich schloss die Augen. Vor mir sah ich die Gesichter meiner Kinder, von denen ich mich gerade verabschiedet hatte. Am liebsten wäre ich am nächsten Bahnhof aus dem Zug gesprungen und umgehend zu ihnen zurückgekehrt.
    Energisch verbannte ich die besorgten Gedanken aus meinem Kopf. Ich verließ sie ja nicht für immer; in genau einem Monat würde ich meine Kinder wieder in die Arme schließen können. Außerdem waren sie bestens aufgehoben, bei Menschen, die sie liebten. Ich musste mich jetzt auf das konzentrieren, was vor mir lag. Nicht umsonst hatte ich gut fünfzehn Jahre lang gekämpft, um endlich an dem Punkt zu sein, an dem ich heute war.
    Um auf andere Gedanken zu kommen,

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