Seelenfeuer
1
M it aller Kraft stemmte sich Luzia gegen den eisigen Atem des bitterkalten Christmondwinds. Ein Fortkommen war beinahe unmöglich, weil der Sturm die zarte Haut ihrer Wangen mit winzigen Eiskristallen malträtierte und an ihren Röcken zerrte. Mit steifen Fingern zog sie das wollene Tuch enger um die Brust. Die junge Wehmutter ärgerte sich über sich selbst, weil sie in der Eile des Morgens keine Laterne mitgenommen hatte. So war es kein Wunder, dass sie bereits zum zweiten Mal über eine schneebedeckte Wurzel stolperte. Doch die Zeit drängte, und an Umkehr war nicht zu denken.
Noch schlief die kleine Siedlung am Ufer des Bodensees tief und fest, nur der Wind und sie lieferten sich einen erbitterten Kampf, dessen Sieger noch lange nicht feststand. Während der Sturm erste Strähnen aus dem schweren Zopf löste, mit dem Luzia ihr fuchsrotes Haar gebändigt hatte, kam sie wieder ins Rutschen und fiel in den eisigen Schnee.
Keuchend erhob sie sich, um ihren beschwerlichen Weg fortzusetzen. Die dicke Schneedecke überzog die ausgetretenen Wege und glitzerte auf den weit hinabgeneigten Dächern.
In der Dunkelheit wirkten die niedrigen Häuser wie bucklige, alte Weiber, deren Lebenslasten allzu schwer geworden waren.
Dort, wo sich die schmale Gasse gabelte, blickte Luzia hoffnungsvoll zum östlichen Horizont, obwohl sie wusste, es würde noch Stunden dauern, ehe das Licht des neuen Tages den schwarzen Fluten des winterlichen Sees entsteigen würde. Auf den Brachflächen zwischen den Häusern streckten Weiden ihre Äste wie gewaltige schwarze Finger in den düsteren Himmel. Ohne Laub wirkten sie knorrig und uralt. Der gefrorene Hauch des Frostes glitzerte im fahlen Mondschein, der manchmal zwischen den dunklen, fast schwarzen Schneewolken hervorschaute.
»Der volle Mond bringt die ungeborenen Seelen. So ist es schon seit Anbeginn der Zeit.« Die Worte der Tante formten sich in Luzias Kopf. In Gedanken gab sie Elisabeth recht. Die meisten Kinder machten sich in Vollmondnächten auf den Weg ins Leben.
Wenn sich also das Kind der Korbmacherin entschlossen hatte, an diesem unwirtlichen Christmondtag zur Welt zu kommen, so war es nur recht, wenn sie der werdenden Mutter in ihrer schwersten Stunde beistand. In der abgegriffenen Hebammentasche, die sie an ihren Körper presste, um sie vor der Nässe zu schützen, fanden sich deshalb neben einem Gefäß mit Schmalz die wichtigsten Heilpflanzen. Sie waren den Hebammen heilig. In jedem einzelnen Kraut verschenkte die Erdenmutter ihre Seele zum Wohl der Menschen.
Bald hatte Luzia den Schutz der Häuser verlassen und kämpfte sich durch kniehohen Schnee den leicht ansteigenden Weg hinauf.
Als sie, halb blind von den Schneeflocken, die ihr in den Augen brannten, ein weiteres Mal zu Boden stürzte, wäre sie am liebsten liegen geblieben. Um überhaupt etwas sehen zu können, schob sie sich das schneenasse Haar unter die Haube. Nur mühsam und unter Ächzen erhob sie sich wieder.
Wenn wenigstens Nepomuk bei ihr wäre. Aber der faule Pelz lag zusammengerollt auf der warmen Winterdecke am Fußende ihres Bettes. Bei schönem Wetter begleitete der rabenschwarze Kater die Wehmutter überallhin, und während sie in den Häusern ihrer Arbeit nachging, erleichterte der flinke Räuber Seefelden um ein paar fette Mäuse.
Hinter einer scharfen Biegung schien der Weg plötzlich zu enden. Während Luzia verwirrt stehen blieb, fragte sie sich, ob sie sich im dichten Schneetreiben verlaufen hätte. Noch immer misshandelten die scharfen Eiskristalle ihr Gesicht und ihre blaugefrorenen Hände. Wie alle Rothaarigen besaß auch Luzia eine sehr helle, zarte Haut. Ihre erinnerte an frische Milch. Weiß, rein und fast ohne eine Sommersprosse.
Verunsichert sah sie sich um, ehe sie ihren Weg langsam fortsetzte. Die eiskalte Luft brannte in ihren Lungen und machte das Atmen fast unmöglich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ein erschöpftes Schluchzen bahnte sich den Weg durch ihre Kehle.
Da! War das nicht das langgezogene Heulen eines Wolfes? Die Angst fuhr Luzia wie eine eisige Klinge durch die Eingeweide, und trotz der Kälte spürte sie, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Also war sie doch vom Weg abgekommen! Schließlich wäre sie in diesem Winter nicht die Erste. Ein paar Männer aus dem Dorf hatten erst gestern den Braunwart Sepp aus dem Schnee gezogen. Auch er war den falschen Weg
gegangen und im tiefen Schnee erfroren. Die Wölfe hatten den Leichnam bereits so übel
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