Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
auf die Windschutzscheibe meines Autos geknallt hat. Ich stelle mir vor, wie er bei einbrechender Nacht mit seinem Packen Selbstkleber in der Tasche loszieht. Ich sehe ihn vor mir, wie er in der Dunkelheit sämtliche Wagen abstraft, die nicht genau rechtwinklig zum Gehsteig stehen, und durch diesen bescheidenen Akt die Frustrationen seines Tages abschüttelt. Der soll mir mal am helllichten Tag über den Weg laufen, damit ich ihm ins Gesicht sagen kann, was ich von ihm halte. Dieser Sturkopf! Dieser Blockwart! Ich hoffe, dass er auch den BMW mit dem Münchner Nummernschild, der sich einmal monatlich stundenlang auf dem Gehsteig vor der Nummer 26 breitmacht, mit seinem «Scheiße geparkt» ausgestattet hat.
Meine Straße ist keine dieser pittoresken Straßen, die man unter einem Vorwand immer wieder aufsucht, um sie entlangzuschlendern. Man begegnet auf ihren Gehsteigen nicht diesem schrulligen Volk der einfachen Viertel, das so dankbar zu beschreiben ist. Keine Kleinberufe, keine Handwerker, still über ihre bescheidene Arbeit gebeugt. Keine urwüchsigen Figuren mit großer Schnauze, aufgetakelte Halbweltgestalten, Kneipenbesitzer, die an ihrem Tresen die Geschichten aus dem Viertel sammeln … Nein, meine Straße hat die Farblosigkeit der Mittelklasse. Sie besteht aus einer Gemeinschaft von Menschen, die der Zufall zusammengewürfelt hat. Aus Flurnachbarn, deren Koexistenz sich auf ein Kopfnicken im Treppenhaus, ein knappes «Morgen!», ohne den Mund zu öffnen, einen Gesprächsfetzen im Fahrstuhl zusammenfassen lässt, meist ein Seufzen über das schlechte Wetter oder die harten Zeiten. Man leiht sich ein Ei von einem Stock zum anderen, nimmt ein Päckchen entgegen, gießt während der Ferien die Pflanzen, füttert die Katzen und klingelt, um sich über den Lärm in der Etage darüber zu beschweren. Das ist alles.
Eine ganz gewöhnliche Straße. Eine, wie es Hunderte gibt in Deutschland, in diesen Stadtvierteln, die Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut und im Krieg beinahe vollständig zerstört worden sind. Sie ist mehr oder weniger austauschbar. Sie trägt übrigens seit ihrer Entstehung ganz zu Beginn des letzten Jahrhunderts denselben Namen. Nicht einmal 1945 war es nötig, sie umzubenennen. Sie wurde nie für eine auch noch so kurzlebige Hommage an einen bald wieder aus der Mode gekommenen großen Mann missbraucht. Sie hat sich nie vor einem Despoten verneigt, der nach einem Wechsel des Regimes in Misskredit geriet. Meine Straße trägt einen so nichtssagenden Namen, dass er kaum der Erwähnung wert ist. Ihr Schicksal ist eine Schablone, die man auf viele andere aufdrücken könnte. Sie ist leicht zu übersehen, man geht die Häuser entlang, ohne die Augen zu heben, man beschleunigt den Schritt, ist mit seinen Gedanken woanders. Dieser erste flüchtige Blick zeigt eine Straße scheinbar ganz ohne Geschichte. Wer könnte ahnen, was sich hinter diesen glatten Fassaden zusammenbraut? Wer vermag dieses unterirdische Beben zu spüren, das die vermeintliche Ruhe erschüttert?
Für die Ewigkeit gebaut
Meine Straße ist 1904 entstanden. Im selben Jahr, in dem Salvador Dalí und Pablo Neruda, Count Basie und Glenn Miller, Jean Gabin, Cary Grant und Johnny Weissmuller alias Tarzan geboren sind. 1904 , so weit weg und so dicht an Ereignissen. In Frankreich wird das Urteil gegen Alfred Dreyfus wegen Landesverrats revidiert und den Ordensgemeinschaften das Unterrichten untersagt. Baltimore wird von einem Großbrand verwüstet, und der Zusammenstoß zwischen den Schnellzügen Paris–Boulogne und Paris–Lille im Pariser Bahnhof La Chapelle fordert vierzehn Todesopfer. In New York wird die erste Metrolinie in Betrieb genommen, und bei den Olympischen Sommerspielen von St. Louis, Missouri, ist zum ersten und einzigen Mal das Sackhüpfen als Disziplin zugelassen. In Paris wird die FIFA gegründet, und in der Mailänder Scala feiert
Madame Butterfly
Weltpremiere. In Nordfrankreich setzt die Weinlese vorzeitig ein, und Papst Pius X. verurteilt das Tragen von dekolletierten Abendkleidern. 1904 hat auch seine Nobelpreisträger: Iwan Petrowitsch Pawlow für seine Verdauungsphysiologie und Frédéric Mistral für seine provenzalischen Romane. Und das Jahr hat seine Erfindungen: das Monopoly-Spiel, die Armbanduhr, das Kenotron, Vorläufer der Halbleiterdiode, das Telemobiloskop, Vorläufer des Radars, den Wegwerfrasierer und die Eiswaffeltüte.
Sortiert man all diese Ereignisse, klassifiziert sie von den
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