Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
jüdischen Kaufmanns Salomon Haberland und seines Sohnes Georg, florieren. Die Haberlands sind mit der Tuchproduktion zu Vermögen gekommen. Und nun spezialisieren sie sich auf die Erschließung von Bauland.
Ein Glücksfall für das Dorf Schöneberg, das inmitten von kargen Äckern, aber strategisch günstig an der Reichsstraße 1 liegt, der großen Ausfallstraße, die vom Schloss nach Potsdam führt. Die Berlinische Boden-Gesellschaft wird einen nigelnagelneuen Vorort für «die höheren Einkommensklassen» aus dem Boden stampfen, das Bayerische Viertel. Ein reines Wohnviertel etwas abseits vom Lärm und Trubel des Berliner Kerns, aber doch nicht ins entfernte, von allem abgeschiedene Umland verbannt. 1904 liegt meine Straße noch außerhalb Berlins. Mit der wachsenden Hauptstadt jedoch wird sie immer näher ans Zentrum im Herzen Berlins rücken.
Georg und Gustav Mette, Max Willmann, Louise Bergemann, Werner Munk, Wenzel Marie … So heißen die Bauern und Gärtner von Schöneberg, die Georg Haberland Flure verkaufen, auf denen meine Straße entstehen wird. Die Berlinische Boden-Gesellschaft verwandelt diese rohen Ländereien in baureife Parzellen, die sie an die Bauherren weiterverkauft, «zahlungsfähige Privatleute oder Baugewerbetreibende». Georg Haberland jedoch will nicht mit diesen Spekulanten verglichen werden, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts nicht im besten Ruf stehen. Er hat kein gutes Wort übrig für diese «besitzlosen Elemente, die kein Interesse an der Durchführung des Baugedanken hatten und nur noch von den Baugeldern lebten, die sie erhielten».
Die neuen Parzellenbesitzer verpflichten sich zum Bau von Mietshäusern. Eine Kapitalanlage, die sicherer und rentabler ist als Wertpapiere. Die Berlinische Boden-Gesellschaft setzt den Städtebauplan um und legt grundlegende Infrastrukturen an: Straßen, «durch gärtnerischen Schmuck und Bäume belebt». Das Straßennetz wurde in Wohn- und Verkehrsstraßen geteilt. Es entstanden eine Kanalisation und eine Beleuchtung durch Bogenlampen mit elektrischem Licht, ein «umso größerer Anziehungspunkt für die Besiedlung, als die Nachbarstraßen nur mit Gas beleuchtet waren», wie Georg Haberland stolz in seiner Broschüre festhält, die er zum vierzigsten Jahrestag seiner Gesellschaft publiziert. Der neue Vorort wird durch Straßenbahn- und Omnibuslinien an die Stadt angebunden, und 1913 bekommt er sogar seine eigene kleine U-Bahn. Fabriken, die die Luft verschmutzen, werden verbannt. Und Georg Haberland setzt das Tüpfelchen auf das i: Den Schmuckplatz mit seinen geometrischen Blumenbeeten, seinem Rasen, seinen Baumkronen, seinen feinen Kieswegen, den Mosaikdelfinen um die Mittelinsel und seinem Muschelkalkbrunnen. Welcher Kontrast zu den engen Gassen und der erdrückenden Atmosphäre der alten Viertel!
Innerhalb weniger Jahre wird das Dorf Schöneberg, das ländliche Sonntagsausflugsziel der Berliner, zu einer für die wohlhabende Bourgeoisie nach Maß gefertigten Berliner Vorstadt. 1898 erhält Schöneberg, das sich reicher Steuerzahler erfreut, das Stadtrecht und bald ein majestätisches Rathaus.
Ich träume oft davon, dass mir eines Tages ein Geist mit seiner Öllampe erscheint und mich auffordert, einen Wunsch zu äußern. Ich würde keine Sekunde zögern. Ich würde ihn bitten, mir einen Tag zu geben, einen ganzen Tag, um im Vorkriegsberlin in meiner noch intakten Straße herumzuschlendern. Als ich meine Straße in den dicken Ordnern des Landesarchivs Berlin entdeckte, glaubte ich für einen Augenblick, mein Wunsch sei in Erfüllung gegangen, ausgerechnet da, an diesem asketischen Ort ohne jeden Zauber: in einer umfunktionierten ehemaligen Munitionsfabrik in Reinickendorf gleich nach dem Tunnel am Ende der Autobahnausfahrt. Ein Aufseher wacht von seiner Estrade des Lesesaals herab über die Einhaltung der Ruhe. Hier verlangsamt sich die Zeit, geht mit ganz kleinen Schritten voran, im Rhythmus der Lagerverwalter, die bedächtig ihre Wagen vor sich her schieben. Unter den hohen Fenstern hängen Staubschwaden im Gegenlicht. Das regelmäßige Geräusch umgeblätterter Seiten, das Knistern eines Blattes, das Schlingern der Mikrofiche-Lesegeräte im Nebensaal. Auf einmal der Windstoß von einer energisch zugeklappten Akte. Hin und wieder ein gedämpftes Gespräch, ein nervöses Räuspern, ein Hustenanfall, ein unterdrücktes Lachen oder ein Seufzer …
Oh, ist das traurig
.
Draußen: das hektische Leben. Drinnen: eine klösterliche
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