Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Foto gefunden, das von einem besonderen Ereignis zeugt.
Es war der 8 . Mai 1911 . Der Festzug der Bäcker-Zwangsinnung Schöneberg. Die Leinenmarkisen mit Volants auf den Balkonen verleihen den Fassaden ein südliches Flair. Die Straße ist ganz neu: Die frisch gepflanzten Bäumchen auf dem Gehsteig werden von Eisenkorsetts gestützt. Neugierige Anwohner sind herbeigeeilt. Sie beobachten das außergewöhnliche Schauspiel, das ihnen ihre sonst so ruhige Nebenstraße bietet. Mädchen in weißen Rüschenkleidern am Arm ihrer Mütter und Jungen in Kieler Matrosenanzügen, die der «Flottenkaiser» in Mode brachte, folgen dem Aufmarsch der Bäckermeister in Gehrock und Zylinder, die Schnurrbartenden extravagant hochgezwirbelt, wie sie es Wilhelm II . abgeschaut haben. Über der Brust eine helle Schärpe gekreuzt. Auf der Herzseite eine Kokarde mit Band, Zeuge vom Fimmel des wilhelminischen Berlin für Dekorationen und Medaillen. Der Mann an der Spitze des Zuges schwenkt eine Fahne. Die Inschrift auf dem Stoff ist auf der alten Aufnahme nicht zu erkennen. Die Brust geschwellt, ziehen die Männer ohne ein Lächeln vorbei. Sie blicken ins Objektiv des Fotografen. In drei Jahren werden sie in den Krieg gehen, und viele von ihnen werden nicht mehr zurückkehren.
War meine Straße häufig Schauplatz dieser Paraden, in die das Kaiserreich so vernarrt war? Wohl kaum. Ich vermute eher, dass sie sich an jenem Tag aus reinem Zufall an der von den Organisatoren der Veranstaltung gezeichneten Strecke befand. Eine Abkürzung zu den großen Durchfahrtsstraßen in der Nähe.
Im Übrigen hoffe ich, dass sich meine Straße ihrer Verantwortung mir gegenüber bewusst ist. Denn für einen Ausländer ist die Straße, in der er wohnt, die Visitenkarte des Landes, der Miniaturspiegel seiner Sitten und Eigenarten. Kurzum, ein Studienfeld. Überschaubar genug, um leicht verwertbar zu sein. Groß genug, um repräsentative Daten zu liefern. Ich habe viel Zeit damit verbracht, meine Straße zu beobachten, um durch sie meine Wahlheimat zu verstehen. Sie hat mir das Verhältnis der Deutschen zur Natur, zur Ordnung, zu ihrer schwierigen Vergangenheit nahegebracht. An ihr habe ich das Funktionieren ihrer Demokratie studiert, ihre Art des Zusammenlebens und ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Ihren Umgang mit der Beschleunigung der Zeit. Ja, das alles ist an meiner Straße ablesbar. Dieser Mikrokosmos entschlüsselt die ganze Republik. Ich glaube, sie hat keine Ahnung, welches Gewicht auf ihren Schultern ruht.
Meine Straße weist keine besonderen Kennzeichen auf. Das übliche Straßenmobiliar: Laternen, Litfaßsäule, Stromkasten, gusseiserne Kanaldeckel, gähnende Kellerlöcher und Tiefgaragen, im Vorgarten der Nummer 26 das Schild eines homöopathischen Internisten, Briefkästen, mehrere Container für die Altkleidersammlung, die für das Stabat Mater einer Sängerin im himmelblauen Abendkleid als Werbefläche dienen, am 1 . Januar Knallerverpackungen und ein paar Tage später ausgetrocknete Baumgerippe auf dem Gehsteig. Eine ehemalige Wasserpumpe
Kein Trinkwasser
vor der Nummer 3 . Die hölzernen Kisten, mit denen die Stadtangestellten die Brunnenstatuen am Platz bedecken, um sie vor dem Winter zu schützen. Mehrere Garagenausgänge
Nur für Mieter des Hauses. Begehen und Befahren auf eigene Gefahr. Auch bei Schnee und Glätte
. Mit Kletterpflanzen überwachsene Pergolen, um die Mülltonnenreihen zu kaschieren. Die regelmäßige Zeichnung der Granitplatten und des Kopfsteinpflasters auf den Gehsteigen. Und all diese
Bitte-beachten-
Schilder, die mit Hilfe von Bilderrätseln das Inventar des Unerwünschten auflisten. Hunde, Fahrräder, Ballspieler, Hausierer. Die überall an die Platanen gepinnten Kleinanzeigen: Entrümpelung, Mathe-Nachhilfe, naiver Appell an einen Wohltäter: «Wir sind frisch verheiratet, nett und diskret und suchen eine 3 -Zimmer-Altbauwohnung mit sonnigem Balkon. Vielleicht haben wir Glück?», Suchanzeigen für weggelaufene Hunde und Katzen. Hinter dem unbeholfenen Flehen «Melden Sie sich bitte! Wenn, freuen wir uns! Vielen Dank!» ist die Verzweiflung eines Kindes zu erahnen. Seit einigen Jahren erobert eine neue Dekoration unsere Straße: ein Messingwürfel vor den Gebäuden, aus denen Juden deportiert worden sind, zwischen die Bodenplatten eingelassen. Acht dieser Stolpersteine habe ich in meiner Straße gezählt. Manchmal blockiert am heiteren Nachmittag eine Bußzeremonie den Durchgang zu einem Haus.
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