Rummelplatz
Grüppchen und diskutierten. Die einen über den Alpha-Zerfall, über Antiteilchen, über das Gesetz der Parität und den Indeterminismus der Quantenmechanik – die anderen über den chinesischen Aufbau, über den Korea-Krieg, über den Freiheitskampf in Afrika und über die deutsche Frage. Da sagte Dau: Sehen Sie, das hält sich die Waage; die Revolution in der Physik und die sozialistische Revolution. Vermutlich wird man einmal unser Jahrhundert danach benennen.«
|393| Am anderen Morgen gingen sie durch die Siedlung. Olga war früh zum Dienst gefahren, Dimitri mußte erst mittags ins Institut. Sie brachten Shenja in den Kindergarten, wechselten ein paar Worte mit der Leiterin, einem mütterlichen Mädchen von höchstens dreiundzwanzig Jahren. Polotnikow sah, daß Dimitri allen hier gut bekannt war und offensichtlich sehr geachtet. Auch auf ihn fiel etwas ab von diesem Glanz; man behandelte ihn, als sei er wenigstens Joffe oder Tamm oder sonst eine legendäre Berühmtheit. Die Vorstellung amüsierte ihn.
Als sie durch den Wald gingen, einen ausgefahrenen Weg entlang, entdeckte er plötzlich einen hölzernen Postenturm. Grün über den Schnee lief ein Bretterzaun mit überhängender Stacheldrahtgirlande, und weiter in der Ferne zeigten sich die Dächer einiger Gebäude, Rohrbrücken, ein schlanker Turm in Stahlkonstruktion. Es waren die gleichen Zäune, wie sie sie in Deutschland um die Schächte zogen, und die gleichen Postentürme. Der Weg der Erze mündete vielerorts im Sowjetland, er mündete auch hier. Die grünen Zäune, der Stacheldraht, die Postentürme. War es das, was die Gedanken affizierte?
Polotnikow sagte langsam: »Da arbeiten Zehntausende Menschen, nur um einer ungeheuren Bedrohung durch eine Gegendrohung zu entgehen. Irgendwann einmal wird sich die Menschheit totlachen über uns. Wenn sie noch Gelegenheit dazu hat.«
Dimitri sah ihn prüfend an. »Ich kann dich schon verstehen«, sagte er. »Auch bei uns geht es manchen so.« Warum verschwieg er, daß es manchmal auch ihm so ergangen war? Es gab die Einsicht, daß es existenznotwendig war, gab den penetranten Optimismus derer, die darauf bauten, daß man inzwischen stärker geworden war als der Feind – soll er es wagen, der Kommunismus wird überleben, der Kapitalismus aber endgültig vernichtet werden –, gab den Fatalismus, den Glauben an die schließliche Gewalt der Vernunft, den blinden |394| Eifer und die Siegeszuversicht, es gab das Bewußtsein der Verantwortung für die Zukunft der Menschheit. Und worin lag seine eigene Zuversicht? Seit einem Jahr arbeitete er nicht mehr am Problem. Die geheimnisvolle Arbeitsteilung gestattete nur wenigen einen Überblick, und es gab auf der Erde bestenfalls zwei-, dreihundert Menschen, die in die höhere Kunst der Bombenherstellung einen wirklichen Einblick hatten. Die Amerikaner boten ganze Völkerstämme von Wissenschaftlern auf und einen gewaltigen technischen Komfort; dagegen war man vergleichsweise bescheiden eingerichtet. Und dennoch arbeiteten viele Tausende, dennoch sprach alles dafür, daß man den Westen überrundet hatte oder mindestens dazu im Begriff stand, dennoch wußte man, daß jeder Tag Frieden die Zeit näher brachte, da die Katastrophe verhindert werden konnte. Die Revolution der Naturwissenschaften und die Revolution in der Gesellschaft – man wußte: die letztere war die entscheidende, nur sie konnte die Gewähr geben, daß sich die Resultate der ersten nicht gegen die Menschheit richteten. Aber war die Gewähr wirklich schon vorhanden? Man war Teil von ihr – aber war man schon stark genug? Hatte man nicht immer wieder Kräfte erlebt, die in Lenins Namen auftraten, nur um seinen Geist um so sicherer zunichte machen zu können? Ja, man glaubte, daß die Partei auch mit diesen Feinden fertig werden würde, wie sie mit dem äußeren Feind fertig geworden war, glaubte an die Unüberwindlichkeit des Marxismus, glaubte an den Sieg der Vernunft durch den Kampf der Vernünftigen, und eben deshalb kämpfte man. Woher aber nahm man jeden Tag aufs neue die Kraft?
Er sagte: »Die Zeit arbeitet für uns. Das ist das eine. Das andere ist: Auch die Entdeckung des Feuers wurde zur Zerstörung mißbraucht, das Flugzeug, das Dynamit, die Funktechnik. Das Tritium ist heute das gräßlichste und kostspieligste Produkt, das je hergestellt wurde. In ein paar Jahrzehnten aber wird man die Wasserstoffusion steuern können, so wie wir |395| heute die Teilung schwerer Kerne steuern. Ich weiß nicht,
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