Rummelplatz
jetzt still ansahen. Olga besaß ein Gesicht von ungewöhnlicher Klarheit und Ausdruckskraft; Polotnikow fühlte sich, als betrete er eine Bühne, als trete er ins Licht vor ein erwartungsvolles und kundiges Publikum. – Da nahm sie ihm einfach den Mantel ab, gab ihm die Hand; was sie sagte, drang nicht bis in sein Bewußtsein, dennoch spürte er, daß er nicht schlechthin als naher Verwandter aufgenommen wurde, sondern als zugehörig in einem anderen, tieferen Sinn.
Olga hatte heißes Wasser bereitgestellt. Als sie sich wuschen, fragte Dimitri: »Und? Wie sieht’s aus bei den Deutschen?«
»Tja«, sagte er. »Wie sieht’s aus …«
Sie hatten das größte Kriegspotential seit Alexander dem Großen, hatten die Hälfte Europas um und um gestülpt – aber wie sah es aus in Makedonien nach dem Untergang der Antigoniden?
Draußen hantierte Olga mit Gläsern und Bestecks. Die kleine Shenja wurde zu Bett gebracht. Der Plüschteddy, den Polotnikow mitgebracht hatte, mußte mit ins Bett, und die Abendgeschichte von Forschern und Helden, von klugen |391| Tieren und tapferen Mädchen mußte heut der Onkel erzählen. Er erzählte die Geschichte vom kleinen Bären aus dem fernen Land Deutschland.
Dann, beim Essen, sagte Polotnikow: »Nach dem Sieg, als Stalin in Potsdam war, gab es in ganz Ostdeutschland fünfhundert organisierte Kommunisten. Die Faschisten kommen und gehen – aber wer in diesem Land war denn nicht Faschist, Kulak, Bourgeois, Menschewik? Eine revolutionäre Situation – aber keine Revolutionäre.«
Er dachte an Hermann Fischer. Mit Ausnahme der fünfhundert, dachte er. Mit Ausnahme des Häufleins, das übrigblieb.
»Und die anderen?« fragte Dimitri.
Polotnikow hob die Schultern. Wenn sie zur Besinnung kommen, leisten sie Ungeheures. These, Antithese, die Menschheit vergißt immer das Wichtigste zuerst. Sie leisten sich Ungeheuerliches, wenn sie nicht zur Besinnung gebracht werden. Und der andere Teil Deutschlands? Kam er nicht schneller voran als der östliche? Und warum? Ja, Gründe wie Tropfen im Meer, Erklärungen, es geht alles mit rechten Dingen zu. In Deutschland braucht’s nur eine plausible Erklärung, schon beruhigen sich die Leute. Es wird ihnen aber verdammt schlecht bekommen, wenn sie sich nicht endlich mal ein bißchen beunruhigen.
»Es ist eine gewesene Weltmacht«, sagte er. »Sie begreifen nicht, wie klein ihr Land ist und wie wenig sie Reserven haben. Die eine Hälfte macht nach wie vor Großmachtpolitik, die andere Hälfte verläßt sich auf uns.«
Die andere Hälfte … Es war aber nur ein Drittel, und in der ökonomischen Potenz war es nicht einmal das.
»Wir haben ein paar deutsche Wissenschaftler hier«, sagte Dimitri. Und dann: »Wenn man sich die Geschichte der Physik ansieht – jeder dritte oder vierte Physiker von einigem Rang war Deutscher. Wenn die deutsche Revolution gesiegt hätte, damals, nach dem ersten Krieg, wie könnte Europa |392| heute aussehen! Und sie selbst – welch ein Land könnten sie heute sein! Begreifen sie wenigstens das?«
»Ein paar schon«, sagte Polotnikow. »Freundschaft mit Rußland – das sagen heute viele. Die einen, weil wir gesiegt haben, die zweiten, weil es ihr Vorgesetzter wünscht, und der wünscht es, weil es sein Vorgesetzter wünscht. Natürlich gibt es viele, die es ehrlich meinen, und welche, die sich lieber auf den großen Bruder verlassen als auf sich selbst, und wenige wissen, daß es nicht so sehr auf Gefühle ankommt und schon gar nicht auf Beteuerungen. Aber sie haben den Terminus als Grußformel eingeführt.«
Und ferner die verbreitete Spezies der Unpolitischen, der harmlosen Abendländer, der netten Deutschen, die ihr Bier lieben und ihre Bockwurst und das Gretchen von Goethe. Sie klopfen dir auf die Schulter und beteuern, daß sie immer gegen Hitler gewesen seien, obschon er die Autobahn gebaut habe, und von den Kazetts haben sie natürlich nichts gewußt, und sie waren schon immer der Meinung, daß all diese Juden und Russen und Neger schließlich auch Menschen seien, und wenn es nach ihnen gegangen wäre, und überhaupt habe man immer gesagt, daß der deutsche Soldat und der russische Soldat die besten Soldaten der Welt wären, und so fort. Und dann führen sie dir ihr Wasserklosett vor: Nu, Kamerad Tawarischtsch Iwan, da staunst du, was?
Olga sagte: »Vergangenen Monat waren wir bei Dau. Er hält noch immer jeden Donnerstag sein Seminar. Pünktlich elf Uhr. Wir gingen den Korridor entlang, überall standen
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