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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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von Olgas Eltern; außer Polotnikow waren nur noch drei oder vier Freunde des Brautpaares zugegen, Physiker wie sie. Die Physiker munkelten, Weksler habe die Berechnungen eines grandiosen Beschleunigers abgeschlossen, eines Synchrophasotrons. Wer wußte damals, daß sie über die strengsten künftigen Militärgeheimnisse sprachen? Hitler hatte zweihundert Wissenschaftler mit der Fortsetzung der Versuche von Hahn und Straßmann beauftragt. In Amerika wurde Präsident Roosevelt von einer Gruppe aus Europa emigrierter Physiker auf die Gefahr einer deutschen Atombombe aufmerksam gemacht. Der große Einstein persönlich mußte Ruf und Namen in die Waagschale legen, damit die Nachricht von der Möglichkeit dieser unvorstellbaren Waffe überhaupt ernst genommen wurde. Und während in Frankreich Joliot-Curie den Weltvorrat an schwerem Wasser vor dem Zugriff Deutschlands bewahrte und von Norwegen nach Kanada bringen ließ, begannen die USA mit einhundertfünfzigtausend Wissenschaftlern und Technikern an der Lösung des Problems zu arbeiten. Im Frühjahr 1943 wußte niemand außerhalb der USA, daß Fermi in Chicago die erste Kettenreaktion zustande gebracht hatte – überdies: sie war so schwach, daß man keine Tasse Tee mit ihrer Energie hätte erwärmen können. Zwei Jahre später fand in New Mexico die erste geheime Versuchsexplosion statt. Einen Monat danach fielen die Bomben Nummer 2 und 3 auf das angeschlagene, kapitulationsreife Japan. In Europa war der Krieg bereits beendet …
    In jenem August hatte auch Polotnikow begriffen. Im Herbst des Jahres stand seine Einheit in einem Erzgebirgsstädtchen südwestlich von Dresden. Er wurde aus dem aktiven |389| Militärdienst entlassen, kehrte nach Moskau zurück. Ein halbes Jahr später war er bereits wieder im Erzgebirge, Leiter eines Ingenieurkollektivs, dann Schachtleiter. Bevor er nach Deutschland zurückkehrte, hatte er sich mit Dimitri das letzte Mal getroffen. Sie hatten sich in Moskau treffen müssen – die Einreise in das Gebiet, in dem sich Dimitris Institut befand, war gesperrt. Auch Olga hatte nicht kommen können, aus Gründen, die Dimitri nicht genannt hatte. Polotnikow vermutete seit damals, daß Dimitri an der Lösung des ›Problems‹ mitarbeitete. Er hatte nicht danach gefragt. Die Materie war zu kompliziert, er hätte kaum etwas verstanden; in Hunderten Betrieben und Instituten lösten Wissenschaftler und Techniker Tausende Teilprobleme. Inzwischen wußte die Welt, daß die Sowjetunion das Problem gelöst hatte – Polotnikow aber sah, wie naiv damals auch nur der Gedanke an eine Frage gewesen wäre. Er hatte eine gelinde Vorstellung von den Sicherungssystemen des Uranbergbaus und der Aufbereitung – die aber waren von einer geradezu lächerlichen Harmlosigkeit, verglichen mit der Sicherung des Problems. Die Bombe war zum Weltgeheimnis Nummer eins geworden, und es war noch ein Glück, daß sie es war.
    Und nun fuhren sie, fuhren durch altrussische Landschaft, auf modernen Straßen, die die uralten Karrenwege abgelöst hatten, fuhren durch Wälder und zwischen verschneiten Äckern nordwärts, und sicher war, daß es sich tatsächlich um eine Angelegenheit dritten Ranges handeln mußte, ›dritter Garnitur‹, wie Dimitri sich ausdrückte, sonst hätte man ihn, Polotnikow, nicht so schlichtweg einreisen lassen. Ihn, der aus dem Westen kam, aus Deutschland, einer für die westlichen Geheimdienste ungemein zugänglichen Gegend. Man hatte von geringeren Anlässen gehört, Mißtrauen ist gut, Verhöre sind besser.
    Sie waren abgebogen, bevor die Wintersonne versunken war, jetzt fiel die Dämmerung ein. Dimitri deutete nach rechts: »Dort drüben ist unser Flugplatz.« Polotnikow sah ein paar |390| verschwommene Lichter, eine Baracke, die Umrisse eines Hubschraubers. Sie fuhren durch ein Wäldchen und waren plötzlich auf einem schnurgeraden Weg, an dem sich in großen Abständen eingeschossige Holzhäuschen reihten, jedes unter ein paar Bäumen, Vorbauten aus weißen Birkenstämmen, gemauerte Schornsteine und doppelte Fenster, es war fast zu schön, um wahr zu sein. Der Wagen hielt, der Fahrer drückte auf die Hupe.
    Olga gehörte zu jenen Frauen, die Polotnikow befangen machten. Er stand vor ihr mit seinem Köfferchen, den Mantel über dem Arm, während die kleine Shenja mit ihrem Vater im Schnee umhertobte. Polotnikow hatte nie recht verstanden, wie Dimitri zu dieser Frau gekommen war, dieser schmalen Schönheit mit den ruhigen, aufmerksamen Augen, die ihn

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