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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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umarmten sich. »Na«, sagte Dimitri. Es war wie früher. Wenn er erregt war, fiel ihm nichts ein. Er begann hastig die beschlagene Brille am Mantelfutter zu reiben und spähte kurzsichtig umher. »Also dann«, sagte er aufgeregt. »Also ich habe einen Wagen bekommen. Wir können gleich losfahren.«
    |386| Erst im Auto sahen sie sich richtig an. Er ist älter geworden, dachte Polotnikow, natürlich ist er älter geworden. Aber er sieht gut aus.
    Vor dem Kriege hatte er immer das Gefühl gehabt, dem Bruder eine ganze Generation voraus zu sein. Noch während der Fahrt hatte er diese Vorstellung gehegt – sie hatten sich vier Jahre nicht gesehen.
    Sie fuhren zum Moskwa-Ufer hinab, die breite Promenade entlang, unter den roten Mauern des Kreml, dem Herzen Rußlands hinter den unpassierbaren Toren. Dimitri erzählte von seinem vierjährigen Töchterchen, von seiner Frau Olga, von dem neuen Haus, das außer ihm noch ein anderer Physiker mit seiner Frau bewohnte, von seiner Schallplattensammlung und von der Rebhühnerjagd; die Sätze sprudelten hervor wie muntere Bächlein, man kam von einem ins andere ohne Übergang. Nur von seiner Arbeit sprach er nicht. Als Polotnikow ihn danach fragte, winkte er ab. »Diffusionsreihen, halbindustriell. Vor drei Jahren waren wir mal berühmt – jetzt sind wir nur noch dritte Garnitur.« Er hatte leise gesprochen, und Polotnikow fiel auf, wie er dabei zu dem Fahrer des SIM hinübersah.
    Sie hatten das Weichbild der Stadt verlassen und fuhren über eine breite, schneeglatte Chaussee in Richtung Dmitrowo. Sie fuhren über das Weiß der Ebene, das in der Ferne begrenzt wurde von schwarzen Kiefernwäldern, von Fabrikschornsteinen und den Silhouetten alter Klöster, fuhren der Wolga entgegen und der altrussischen Landschaft um Kimry und Konakowo, in den dunklen Glanz der Frühgeschichte, der Ikone alter Meister, der vergilbten Bücher und der Sagen. Sie fuhren nordwärts.
    Isotopentrennung. Diffusion.
    Polotnikow wußte: das physikalische Laborproblem war längst ein industriell-technisches geworden. Es war über den Arbeitsbereich der Physiker hinausgewachsen und beschäftigte Ingenieure und Konstrukteure, Chemiker und Mediziner, |387| Metallurgen und Geologen, die Radioisotope und das Isotron, die Kernspaltung und die Kettenreaktion beschäftigte Wissenschaftler, Wirtschaftler und Militärs. Auch der Uranbergbau, sein Arbeitsgebiet, war weiter nichts als eine Ausgangsindustrie – eine von vielen, wenn auch vermutlich die wichtigste. Und es war keine sechzig Jahre her, daß Becquerel die natürliche, keine fünfzehn, daß Irène und Frédéric Joliot-Curie die künstliche Radioaktivität entdeckt hatten. Die Relativitätstheorie, die Quantentheorie und die Heisenbergsche Quantenmechanik waren Kinder dieses Jahrhunderts. Dreißig Jahre waren seit Rutherfords erster Kernumwandlung vergangen, fünfzehn, seit Fermi begonnen hatte, Urankerne mit Neutronen zu bestrahlen, zwölf seit Otto Hahns Uranspaltung. Hiroshima aber lag kaum sechs Jahre zurück. Das alles wußte Polotnikow. Es gab harmlose Isotope und weniger harmlose, Atome von Mischelementen, die eine gleiche Kernladung, aber verschiedene Masse haben; es gab friedsame Isotope für die Medizin, und es gab das U 235, die Transurane, das Deuterium und das Tritium.
    Vor dem Kriege hatte Polotnikow von Dimitris Arbeit kaum eine Vorstellung gehabt. Er hatte sich irgendein Laboratorium vorgestellt, wo ein paar Besessene irgendwelche Strahlen zählen und mit dem Quadrat der Dienstjahre des Leiters multiplizieren. Auch während des Krieges noch, als Dimitri vom Militärdienst freigestellt und mitsamt seinem Institut evakuiert worden war, hatte er mitunter gedacht, daß die massenspektographischen Untersuchungen wohl auch bis nach dem Sieg warten könnten, in dieser Zeit, da das Land Panzer brauchte, Geschütze und Kämpfer. Die Erschließung der Kernenergie ist das revolutionärste Ereignis seit der Zeit, als der Urmensch das Feuer entdeckte? Es war Krieg! Und er hatte die Frage, ob man sich so einfach vom Kampf ›befreien‹ lassen könne, abgewogen gegen den Stolz auf das Land, das seinen Wissenschaftlern auch dann, als die Front |388| des Krieges vor der Hauptstadt stand, nicht gestattete, die Front der Wissenschaft zu verlassen.
    Im zweiten Kriegsjahr, Polotnikow war nach seiner Verwundung aus dem Lazarett entlassen worden und stand kurz vor der Rückkehr an die Front, feierten sie Dimitris Hochzeit. Sie feierten in Moskau, in der Wohnung

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