Rummelplatz
Berufsverbrecher. Das alles war dem aufgeklärten Geist des alten Kulturvolkes der Deutschen fraglos zutiefst unwürdig. Aber war es nicht im Grunde das Werk einiger Extremisten? Das Volk dachte anders – sicher auch der größere Teil der Führungskreise.
Sprach nicht vieles – von der inneren Stabilisierung bis zur äußeren Geltung, vom Bau der Reichsautobahnen bis zur Kraft-durch-Bräute-Politik –, sprach nicht vieles dafür, daß die Extremisten nach und nach gezügelt, Aufschwung und Erneuerung aber bleiben würden? Der Dr. Jungandres jedenfalls kannte keinen einzigen Fall in der Geschichte, wo |416| sich extreme Veranlagungen lange hätten halten können. Geschichte war seine stärkste Seite leider nicht.
Die NSDAP, da er nicht irgendwer war, umwarb den Dr.Jungandres denn auch beharrlich. Die Leute, die dazu aufgeboten wurden, waren die Dümmsten nicht. Seine schwachen Punkte fanden sie bald heraus, kamen ihm nicht allzu plump, spekulierten auf seinen Wirtschaftsgeist und seine organisatorischen Ambitionen, glänzende Organisatoren, die sie selbst waren; schließlich, im Frühjahr neununddreißig, hatten sie ihn soweit. Der Dr. Jungandres, nach langem Widerstreben, wurde Mitglied der NSDAP. Im Aufsichtsrat der Deutschen Papier AG sah man’s nicht ungern, im Direktorium noch weniger, ausgesprochen freundlich nahm man’s im Reichswirtschaftsamt auf. Der Name dieses Papierdoktors besaß bei einigen schwierigen Leuten in Wien und Graz einen ausgesprochen guten und nun auch auf der NS-Flöte spielbaren Klang, auch einigen einflußreichen Skandinaviern würde die Tonart angenehm in den Ohren klingen. Die samtene Tour lohnte sich also.
Ganz wegzublasen waren aber die heimlichen Skrupel des Dr. Jungandres nicht, und es spricht für ihn, daß er immerhin schon im Jahre zweiundvierzig einsah, daß er auf das falsche Pferd gesetzt hatte und daß seine ursprünglichen Bedenken nur allzu berechtigt gewesen waren. Endgültig nieder schlug ihn der uppercut zu Stalingrad im Frühjahr dreiundvierzig. Gefolgschaftsführer Jungandres, wie er nun genannt zu werden sich gefallen lassen mußte, vermochte mit dieser späten Einsicht nicht viel anzufangen; ein Austritt aus der NSDAP, soviel war ihm klar, wäre dem Selbstmord gleichgekommen, zum konspirativen Widerstand andererseits fehlten ihm sowohl die inneren als auch die äußeren Voraussetzungen. Tat er also gar nichts? Doch, etwas tat er, und es sollte ihm später von der sowjetischen Besatzungsmacht und vor der Entnazifizierungskommission auch hoch und mildernd angerechnet werden: er wurde nämlich blind. Die wenigen |417| Arbeiter im Werk, die den Mut hatten, mit den ausländischen Zwangsarbeitern Verbindung aufzunehmen – in den letzten Kriegsjahren bestand fast ein Drittel der Belegschaft aus Kriegsgefangenen oder verschleppten Franzosen, Belgiern und Ukrainern –, waren vor seinen Augen sicher; sie wußten es auch. Es war wenig genug, die Bewachung der Kriegsgefangenen war überaus streng, die Behandlung hart, die Strafen unmenschlich, überdies gab es auch unter den alten Stammarbeitern gut zwei Dutzend fanatischer Nazis. Aber drei Wochen vor Kriegsende tat Jungandres noch etwas. Der Betrieb war geschlossen worden, das Kriegsgefangenenlager Hals über Kopf abtransportiert, zur Verteidigung des Werkes ließ man dreißig Mann Volkssturm zurück unter dem Kommando des Dr. Jungandres. Bei einem seiner ersten Gänge durch den toten, ausgestorbenen Betrieb nun sah der Dr. Jungandres den damaligen Heizer und späteren BGL-Vorsitzenden Brüstlein in auffallend vorsichtiger Weise im Kesselhaus verschwinden, wo er ohnedies nichts mehr zu suchen hatte. Er ging ihm leise nach und sah, wie Brüstlein ein schmales Päckchen in den Fuchs des stillgelegten Ofens II hineinschob. Brüstlein mußte dann doch etwas gemerkt haben, er fuhr herum, sah den Dr. Jungandres, der aber tat, als ob die Sache ganz natürlich sei, nickte kurz und ging weiter. Als zwei Tage darauf die Amerikaner einmarschierten, schickte der Dr. Jungandres seine Volkssturmmänner unauffällig nach Hause, den Volkssturmmann Brüstlein aber schickte er ins Kesselhaus; der ging denn auch hin und kam mit drei geflohenen Kriegsgefangenen zurück. Eben diese Geschichte sagte Brüstlein später vor der Entnazifizierungskommission aus.
Dem Dr. Jungandres wurde also kein Haar gekrümmt. Im Juli fünfundvierzig, nun schon unter sowjetischer Besatzungsmacht, begann der Betrieb mit zwei Maschinen wieder zu arbeiten, und
Weitere Kostenlose Bücher