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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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FDJ-Gruppenleiter der Baracke gewählt, weil kein anderer es machen wollte, und jemand hatte gesagt: Es gibt welche, die werden immer wieder gewählt, nur, damit sie neue Gelegenheit haben, etwas nicht ganz falsch zu machen. Im Grunde weiß jeder Bescheid, aber dennoch läßt man es dabei. Und der mußte also wohl den Mehlhorn von früher kennen. Es war dieser Bergschicker, und er sagte, so einen wie Krieg und Frieden müßten sie haben, aber er wußte natürlich, so einen hatten sie nicht. Und Kleinschmidt wußte: Wenn man ein Herz hätte wie der Loose, dann könnte man es vielleicht machen. Er wußte auch: Da ist etwas falsch, und sie wissen es alle. An der Schule wählten sie auch immer den, der sich anbot, denn von denen, die gut gewesen wären, bot sich keiner an. An der Schule hatten sie immer einen gehabt, der nichts weiter konnte als das. Der war auch nicht in den Schacht gegangen, der hatte schon lange seinen Studienplatz. Es kam immer so, daß einer da war, der es sah, der war aber immer der Schwächste, und er kam kaum für sich an gegen die anderen, geschweige denn noch für andere. Es war schlecht, wie es war, und falsch, aber es war so.
    Kleinschmidt wurde wach, als Loose zu spielen begann, aber dann döste er weiter. Er hörte sie singen, und er hörte den Schachtzimmermann Müller sagen, die Krawoleit, die wäre schon richtig. Ihm fiel aber nicht ein, wer die Krawoleit war. Er dachte angestrengt nach, aber er konnte sich nur an das Mädchen in der Bahnhofswirtschaft erinnern, und die war es natürlich nicht. Er hob den Kopf und schlug die Augen |61| auf, da sah er: Müller sang gar nicht mit, der gähnte. Mehlhorn saß beiseite und schien richtig vergnügt. Kleinschmidt hatte plötzlich eine ganz kalte Wut auf diesen Mehlhorn. Der hatte gut vergnügt sein, der hatte seinen Druckposten, die ganze Schicht hatte er bloß mit dem bißchen Holztransport zu tun, dem fiel dann hinterher nicht der Kopf auf die Tischplatte. Er war jetzt ganz leer, er war elend wie nie zuvor. Er hörte den Loose sagen: Na, ausgeschlafen? Er hätte sich nur aufzurichten brauchen, dann hätte er mit den anderen am Tisch gesessen und dazugehört. Er sah das sogar im Halbschlaf ein. Aber er kam einfach nicht hoch, und dann hörte er auch auf, etwas einzusehen. Er war nun endgültig ohne die anderen. Der Tisch stieg hoch mit ihm, und dann bewegte sich nichts mehr. Er schlief jetzt fest.
    Loose schob dem Zimmermann plötzlich seine Marke hin und sagte: »Du kannst mal meine Heringe mitholen, die kannst du ihm geben. Ich fahr ins Dorf runter, ich muß da jemand besuchen.« Der Zimmermann steckte die Marke ein und nickte. Er fragte nichts. Nur Mehlhorn sah neugierig herüber. Aber Loose beachtete ihn nicht, er sah den schlafenden Kleinschmidt, er hatte genug von dieser Baracke. Er wäre jetzt auch im dicksten Regen gegangen, aber zum Glück nieselte es nur noch leicht. Er steckte die Gitarre in den Sack und sagte zu Mehlhorn: »Nimm sie mit rüber.«
    Einen Bus oder Kipper hoffte er an der Kreuzung zu erwischen. Er hatte die Gummistiefel an, und er ging gleich quer durch den Wald. Er dachte: Sie muß doch da sein, sie wechseln die Schicht doch nicht unter der Woche. Er würde einfach warten, bis sie abgelöst wurde. Es roch stark nach frischem Holz, jetzt, da der Regen aufhörte. Er ging nicht besonders schnell, er hatte Zeit. Er war aber froh, daß er etwas vor sich hatte ganz für sich.

|62| III. Kapitel
    Der Präsident stand auf der Tribüne der Linden-Universität. Er hatte die Hände über dem Mantelknopf verschränkt, unter dem Wollschal war die altmodische Krawatte zu sehen; er sah herab auf die Menschenmenge, die sich in der Straße drängte von der Museumsinsel bis zum Brandenburger Tor. Unten trugen sie Fahnen vorbei, Spruchbänder, Transparente. Eine halbe Stunde zuvor hatte der Präsident eine Rede gehalten. Es war die erste Präsidentschaftsrede in Deutschland, die von einem Manne gehalten wurde, der Arbeiter war, bevor er Präsident wurde. Es war eine kurze Rede gewesen. Sie hatte nichts zu bieten außer der Wahrheit eines Sieges, der die Kämpfe nicht beendete.
    Unten zogen sie Kopf an Kopf. Sie kamen aus der gespaltenen Hauptstadt des gespaltenen Landes, aus dem Oderbruch und den südlichen Gebirgen, den Elbniederungen und vom platten Lande. Sie kamen aus vielen Städten. Die rote Arbeiterfahne wehte; manch einer trug sie, der sich nicht zu ihr bekannte. Es zogen Sieger und Besiegte, Aufrechte und Gebeugte, Schuldige,

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