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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Weile an. Und Hermann Fischer sagte: Blödsinn, die Normerhöhung ist doch rückgängig gemacht worden, hat das ZK doch vorgeschlagen, steht doch in der Zeitung. Und gestern abend ist es schon in den Nachrichten gekommen. Sagte Hermann Fischer. Und auch Christian dachte: Aufstand, das ist ja idiotisch, das kauft denen doch keiner ab, wollen mal sehen, wie sie die Ente dementieren …
    Aber dann kam erneut der Sprecher, und diesmal hatte er gleich eine Reportage aus dem sogenannten Ostsektor dabei, die klang eigentlich nicht, als ob sie erfunden wäre. Das Gefühl hatten sie alle. Höchstens, daß man sich wundern könnte, wie diese RIAS-Leute in den zehn Minuten seit der ersten Meldung einen Reporter in den Ostsektor und zurück gebracht hatten mitsamt einer dreiminutigen Bandaufnahme, unvorbereitet, wie sie sich hatten, also das war immerhin merkwürdig. So kurbelte Christian den Zeiger über die Leuchtskala, hörten sie in alle nähergelegenen Sender hinein, blieben schließlich bei Leipzig: Es sendeten aber alle Sender des Deutschen Demokratischen Rundfunks Frühmusik.
    Bis zum Völkerschlachtdenkmal, und sie sahen diese Stadt nun doch mit anderen Augen und fuhren durch, ohne anzuhalten, obschon Christian den Wunsch verspürte, wenigstens seinem alten Herrn schnell guten Tag zu sagen, er verschob ihn aber auf die Rückfahrt – bis Leipzig, und es erschien ihnen der Betrieb in der Stadt nun doch irgendwie seltsam. Nicht, daß da etwas Greifbares gewesen wäre, das nicht, aber man hat ja so einen Sinn für Atmosphäre, auch im Vorüberfahren hat man den, es lag etwas in der Luft. Immer noch aber brachte der Sender Leipzig seine unbekümmerte Frühmusik. Und sie hörten wieder den Rundfunk im amerikanischen |593| Sektor, den US-finanzierten, die Meldungen kamen jetzt pausenlos.
    Das Glaubenmüssen und das Nichtglaubenwollen bekämpften einander lange. Es kann doch nicht sein, sagte Hermann Fischer. Der Arbeiter kann doch nicht streiken gegen sich selber. Und fragte sich dennoch, ob sie nicht vielleicht doch zu wenig getan hatten, ob sie die Unruhe der letzten Zeit vielleicht doch nicht ernst genug genommen hatten, ob sie nachgelassen hatten in der Wachsamkeit oder aber dem Volk zuviel zugemutet – wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht mehr verstehen, dann können daran doch nicht die Arbeiter schuld sein. Das wäre die schwächliche Flucht der Unverstandenen, die sich ein anderes Volk wünschen. Das ist kein Satz für Marxisten. Die zu bewältigende Zukunft, das ist unser Satz, und dazu muß man sich die Gegenwart vornehmen, wie sie ist, nicht, wie man sie sich wünscht. Das Leben geht immer weiter, dachte Hermann Fischer. Einmal waren da Matrosen, die erhoben sich gegen die Herren, erhoben sich gegen ihre Generäle, erhoben sich gegen den Krieg, und jeder von ihnen hatte eine Familie, jeder von ihnen hatte eine Frau, die Frauen haben diese Männer geliebt, viele von ihnen hatten Kinder. Und jeder hatte seine Ungewißheit: die kommende Generation. Aber die kommende Generation waren wir, und wir stehen schon wieder inmitten der kommenden, das Leben geht immer weiter. Haben wir das Vermächtnis der Matrosen wahrhaft erfüllt? Die Menschen lachen und leben über den Gräbern ihrer Nächsten, und das ist gut so! Haltet euch wacker, baten die Kämpfer im Sterben, blick fröhlich, Revolution! Und da war keiner, so arm er immer gewesen sein mag in seinem Leben, der bei seinem Tode nicht etwas hinterließ. Das war ihr Vermächtnis und das ist unser Vermächtnis. Also haben wir ausgehalten in einer Welt von Feinden, also haben wir gekämpft und gesiegt in Tausenden Niederlagen, also haben wir unsere Sache rein und unseren Kampf heilig gehalten in den Zuchthäusern, in den Konzentrationslagern, in den Folterkellern |594| und in der Todesstunde unserer Besten, und haben unserem Volk seine lebendige Geschichte bewahrt: Es hat welche gegeben, die haben den Faschismus bekämpft, die haben ihr Leben für unsere Freiheit gelebt, und für unsere Freiheit sind sie gefallen – also sind wir kein Volk von Verbrechern und Mitläufern. Und wir haben weitergekämpft nach der Befreiung ohne Ruhe und ohne unsere Kräfte zu schonen, wir haben den Anfang eines Vaterlandes hingebaut mitten hinein in die Zerstörung und mitten hinein in die Herzen der Mutlosen, in die Hoffnung der Mütter und die ersten Schritte der Kinder, und den Mitschuldigen haben wir ein Handwerkszeug gegeben und einen Platz gewiesen, weil Schuld nur zu tilgen ist

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